Mein Glueck
amerikanische Tod hat mich seit dem Besuch von Forest Lawn, seit den »Desasters« Warhols und den hygienischen Morden in den Todeskammern der amerikanischen Gefängnisse nicht mehr losgelassen. Zu den trostlosesten Begegnungen führt hier der Blick ins Internet, zu den peinlich genauen Informationen über die Deathrows der texanischen Institutionen. Bei den 478 Hinrichtungen in Huntsville, Texas, führt ein Mike Graczyk, ein wohlgenährter, irgendwie beseligter Mann, wie das Foto vor dem Todestrakt zeigt, den Zeugenrekord. Er soll über dreihundertfünfzigmal als offizieller Beobachter anwesend gewesen sein, um den Todeskämpfen zuzuschauen, die im Durchschnitt sieben Minuten dauern. Das heißt, rechnet die Statistik des Gefängnisses vor, dass er vierzig Stunden seines Lebens dem Blick auf den Tatort des staatlichen Mordes geopfert hat. Auch weitere Bürger, wie Tracy Duncan, Melony Closs und Jenna Jackson, scheinen sich offenbar um diesen makabren Dienst gerissen zu haben. Und es sind alles Menschen, mit deren Privatleben, deren Familien und deren Hobbys wir uns über das Internet bekanntmachen können. Eine Rubrik zählt auf, was die Todeskandidaten als letzte Mahlzeit bevorzugen. Doch vor wenigen Wochen wurde diese Form der letzten Wunschäußerung eingestellt und verboten. Grund für das Ende der Sondermahlzeiten war das Anliegen eines Todeskandidaten, der sich ein gargantueskes Essen zusammengestellt und es dann nicht berührt hatte. Das hat man ihm nicht verziehen. Er orderte »Chicken Fried Steaks, Triple Bacon Cheeseburger, Cheese Omelet, Large Bowl of Fried Okra, 3 fajitas, 1 lbs of bbq w/half loaf of white bread. A Meat Lovers pizza; three root beers; one pint of Blue Bell vanilla ice cream; and a slab of peanut butter fudge with crushed peanuts«. Aber der Rückschluss, den uns Tod und Küche im Gefängnis anbieten, ist erhellend. Letzte Mahlzeiten wurden nicht selten zu erfolgreichen Kochbüchern zusammengestellt.
Die damaligen Ausflüge in Kalifornien führten uns auch zu dem anderen Venedig, nach Venice. Der ärmste, unzumutbarste Strand von Los Angeles trägt diesen euphemistischen Namen. Am vollkommen flachen südkalifornischen Pazifikstrand entlangfahrend, mit dem Blick auf das Meer, über dem eine flimmernde Dunstglocke die Trennungslinie zur endlosen Bläue des Himmels verschleiert, durchforstet man Block für Block die Ateliers der zahlreichen Künstler, die sich hier, an der äußersten Grenze des »go west«, niedergelassen haben. Einkünfte haben wenige. In vielen Ateliers Kaliforniens, auch in Venice, findet sich technisches Gerät. Hier wird viel mit Kunststoffen und Glas gearbeitet. In Dewain Valentines Atelier entdeckte ich frei stehende, aus leicht eingefärbtem Plexiglas gegossene Scheiben. Sie wirken wie aufgestapelte Sonnenaufgänge. Sein Hausnachbar Larry Bell, der längere Zeit mit seinen irisierenden Glaskuben die Vorstellung von einer kalifornisch-sinnlichen Kunst mitgeprägt hat, zeigte mir diesmal zu meiner Überraschung Gemälde. Bells Verwendung von Licht und Raum hatten mich zuvor betroffen gemacht. Die entmaterialisierten Kästen wirkten auf mich wie unfassbare, geisterhafte Grale, die die Grenzen der Perzeptionsfähigkeit berührten. Überhaupt entdeckte ich in dem kalifornischen Light and Space Movement, zu dem auch James Turrell, John McCracken oder Robert Irwin zählten, eine Spiritualität und eine Suche nach Überwältigung, die der Kunst an der Ostküste, die sich mehr und mehr dem Pop näherte, vollkommen fehlte.
In einigen Ateliers war das Vorbild Kienholz’ ganz offensichtlich: Hier wurden Fundstücke zu Altären des Psychoterrors und taktile Überraschungsmomente ausgestaltet. Daneben traf man immer und immer wieder auf einen kalifornisch gefärbten Umgang mit Restchen von edlen Stoffen, die auch die Goldgräber der Subkultur sammeln: Plexiglas, Polyesterüberzug, Goldlamé. Eine Präsentation von sublimiertem Müll, der zu Ekstase anregen soll. Das war eine neue Stimmung. Überall wurden Privatmonstranzen in die Höhe gehalten. Man traute deshalb seinen Augen nicht, wenn man, nach nur mehrmonatiger Abwesenheit, erneut über Los Angeles’ Sunset Boulevard oder den Hollywood Boulevard wanderte. Das Pfingstwunder an allen Straßenecken gab dem Passanten eine religiöse Geborgenheit, die man in Los Angeles weiß Gott zuvor nicht gespürt hatte. Überall standen die Jesus-Bewegten, schlank getrimmt durch Health-Food, verteilten Handzettel, begleiteten, ohne sich
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