Mein Glueck
umfangreichen Ausgabe stellte Andreas Gursky auf großzügige Weise ein Werk zur Verfügung, an dem ich sehr hänge. Die Arbeit »99 Cent« gehörte zu den letzten Ankäufen, die ich als Direktor des Musée National im Centre Pompidou machen konnte. Viele halfen mit, in Windeseile das Projekt umzusetzen. Thomas Gaehtgens war bereit, die Bände herauszugeben, und verfasste ein umfangreiches Vorwort. Tanja Wessolowski, Markus A. Castor, Julia Drost, Dirk Hildebrandt und Annerose Rist setzten sich unter der energischen Stabführung von Maria Platte dafür ein, dass dieser umfangreiche Kasten rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse im Herbst erscheinen konnte. Dort sprengte er mit seinen exorbitanten Ausmaßen fast den kleinen Stand der Berlin University Press von Gottfried Honnefelder.
Neo Rauch, Werner Spies und Frieder Burda
David Lynch lieferte ein fotografisches Porträt, das er von mir in der lithographischen Werkstatt des Centre aufgenommen hat, in der er mit Passion seine Pariser Tage zubrachte und die einst der berühmte Mourlot geführt hatte. Hier trifft man auf eine »Bibliothek« cremefarbener dicker Platten, die aus den Solnhofener Brüchen stammen. Es ist der fahle, cremefarbene, harte Kalkstein, auf dem Bonnard, Matisse, Picasso, Miró, Max Ernst, Giacometti, Dubuffet im Laufe von Jahrzehnten Tausende Motive eingetragen haben. Das Atelier selbst, ein Erinnerungsort der frühindustriellen Zeit, an dem Maschinen und Werkzeuge ihre Funktion offenlegen, passt zum Dekor von »Eraserhead«. Ich erwähnte gegenüber David Lynch den unerhörten Text, den Francis Ponge 1945 dem Atelier von Fernand Mourlot gewidmet hat. Ponges »Materie und Erinnerung«, seine Hinweise auf die unmerklichen Brown’schen Bewegungen, die sich unter der Oberfläche des Steins abspielen, bewegten Lynch. Man kann den Stein noch so gut abschleifen, bearbeiten, ihm den feinnervigen, rezeptiven Charakter einer Schleimhaut verleihen, ihm bleibt die Erinnerung eingebrannt. Er sucht zu seiner eigenen Geschichte zurückzukehren. Dann und wann lehnt sich der Block auf und erinnert daran, dass er Verwalter und Bewahrer unzähliger Palimpseste ist. Mit einem Schlag schimmert auf der Oberfläche des Steins, inmitten der neuen Komposition, etwas von seinem Vorleben durch. Das, was auftaucht, nennen die Lithographen »Phantome«. Es sind in der Tat so etwas wie Geistererscheinungen, die der Künstler, der auf den Block zeichnet, bei seiner Arbeit wahrnimmt. Man kann dabei an Sigmund Freuds Beschreibung des »Wunderblocks« aus dem Jahr 1925 denken. Ein Spielzeug, das es gestattet, auf einer druckempfindlichen Wachsplatte Eintragungen immer wieder verschwinden zu lassen. Der Autor beobachtete, dass sich die Spuren zwar löschen lassen, aber trotzdem als winzige Vertiefungen unter der neuen Eintragung fortbestehen. Der Umgang mit dem lithographischen Stein, der einem wie ein Teller vorkommt, von dem zuvor viele andere gegessen haben, hat mit Lynchs eigenem Werk zu tun, dem Spiel mit dem Wiedererkennen.
Die Zugehörigkeit zur Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde auch dadurch belohnt, dass ich hier anregende und treue Freunde gewann. Diese Freundschaften bildeten einen ständigen Ansporn für mein Schreiben. Die Wiederbegegnungen mit Karl Heinz Bohrer in den Jahren, da er sich vorwiegend in Paris aufhielt, waren auch in menschlicher Beziehung ein Höhepunkt. Wir erlebten, wie seine Frau Undine Gruenter ihre letzte Veröffentlichung, Der verschlossene Garten , todkrank ihrem Mann diktierte. Wie dieser seine Frau auf bewundernswerte Weise begleitete und pflegte, zeugte von Stil und einer unvorstellbar gefassten Haltung. Das Paar lebte am Fuße des Montmartre in einem geschlossenen Bezirk außerhalb der Zeit, der beim Besucher den Eindruck einer Friedlichkeit hinterließ, die fast schon verwirrend wirkte. Die geradezu klassizistische Ordnung in der hellen Wohnung kam einem unwirklich vor. Man hatte das Gefühl, in die Gemächer des Hauses am Weimarer Frauenplan einzutreten, in denen sich wie in einem Palimpsest Leben als künftige Erinnerung abspielte. Alle späten Texte, die Undine Gruenter schrieb und publizierte, standen im Notlicht einer Sonnenfinsternis. In ihnen herrscht eine Grausamkeit der Beobachtung, die den Leser nicht zum Komplizen macht, sondern ihn richtiggehend anspringt und wegdrängt. Erotik, Exhibitionismus, Verschmelzung der Körper und Scheu gehen auf erschütternde Weise ineinander über. Darauf beruht sicherlich die
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