Mein Glueck
vergeblich beteuerte, er habe schon so manches Risiko mit seinen Sendungen auf sich genommen, und der Aragon schmeichelte, das Bedeutendste, was er an poetischem Erlebnis in sich trüge, gehe auf die Zeit der Résistance zurück. Damals sei ihm Aragons Le Crève-Cœur in die Hände gefallen. Aragon schien das gesamte Ausdrucksrepertoire, über das er verfügte, abzuspielen und komplimentierte ihn schließlich hinaus: »Cher ami, ich kann mir selbst wirklich nicht untreu werden. Mit den Toten kann man machen, was man will. Nicht mit den Lebenden.«
Nathalie Sarraute, Elfriede Neidlein, Monique Spies, Jean Clair und Werner Spies
Ich erweckte offensichtlich rasch seine Sympathie. Er hatte den umfangreichen Band studiert, den ich den Collagen Max Ernsts gewidmet hatte. In ihm war immer wieder von Aragon die Rede, war er doch der erste gewesen, der 1930 in La Peinture au défi versucht hatte, eine Art Systematik von Collage und Materialverwertung zu skizzieren. Seine Analyse ging weit über die Texte Bretons oder Éluards hinaus. Er übergab mir eine Erstausgabe seiner Schrift und notierte neben der Titelei: »für Werner Spies, der mehr Recht auf dieses Buch hat als jeder andere auf dieser Welt. In besonderer Zuneigung, Aragon, März 1975«. Derartige Widmungen, die auf meine Arbeit anspielten, setzten sich in anderen Büchern wie im zweibändigen Henri Matisse, roman fort, in dem Aragon schreibt: »für Werner Spies, für alle Romane, die er über andere Maler und Bildhauer geschrieben hat – obwohl er vielleicht nicht denselben Begriff vom Wort Roman hat wie ich … der in der französischen Sprache die erste Form von literarischer Bezeichnung ist … Diese Seite reichte nicht aus, und dies sei nur nebenbei erwähnt, all die Dankbarkeit geltend zu machen, die seine Bücher verdienen, ohne die so vieles von der Kunst unserer Tage der Gefahr des Vergessens ausgesetzt wäre und für die er so verdienstvoll die noch im Dunkeln liegende Zukunft erstritten hat. Aragon«.
Oben unter den Dächern der Rue de Varenne, gegenüber dem Hôtel Matignon, der Residenz des Premierministers, potenziert sich das, was draußen von der späten Herbstsonne noch an den Tag gebracht wird, zu einer fast düsteren Dichte: Eine verglaste Tür weist passagenhaft auf weitere Räume, die angefüllt sind mit Bildern, Büchern, Objekten, Skulpturen, Möbeln. Eine andere Tür dagegen lässt an eine Mumie denken, sie ist mit hellem Stoff übersteppt. Daneben hängen Spiegel und ein überlebensgroßes, fast die ganze Wand ausfüllendes Schwarz-Weiß-Foto von Elsa. Wie ein Hausaltar erwartet das von Vorhängen umrahmte Bild den Besucher. Aus dem Singular Elsa kehrt er während des Essens immer stärker zu dem zurück, was zum Singulären der frühen Bücher gehört: die Begegnung mit Orten und Menschen, die er nicht wählt, sondern die mit der Macht eines Zufalls in sein Leben einfallen. Er redet mit beiden Händen und meint, diese Manie sei in seiner Familie vererbt worden. Er erzählt von Treffen mit Brecht, mit Carl Sternheim und ist stolz darauf, dass seine erste Novelle, die er mit sechs Jahren geschrieben habe, von der Tochter Sternheims ins Deutsche übertragen wurde. Doch das Vergangene, die Welt des Flaneurs, sei für ihn nur noch eine entschwindende, wenn auch unausrottbare Erinnerung. Er stelle sich die Frage, ob die heutige Passion für die Passagenwelt eher daher komme, dass man glaube, hier offenbare sich die Moderne, oder dass sie von der Lust am Veralteten herrühre? Für ihn, das zeigen die Seiten des Buches Le Paysan de Paris , auf denen er aktuelle Reklameschilder einblendete, war es auf alle Fälle die Begegnung mit prickelnden Neuigkeiten, der Umgang mit Prostituierten, die zur Massage einluden und die sich sorgfältig um die Säuberung seines Penis kümmerten. Was er in diesem Buch schilderte, war in seinen Augen alles andere als Nostalgie, konnte auch keine Nostalgie sein, weil hier fast ausschließlich Neues, Ungelebtes Aktualität erfuhr. Die Erinnerungen an die Monate, die er 1922 in Berlin verbracht hatte, beschrieb er auf dieselbe, man kann sagen Anti-Benjamin’sche Weise. In Berlin verfasste er Paris la nuit , eine dieser somnambulen Skizzen, die zum Paysan de Paris führten. Der Text sei damals auch in Berlin gedruckt und von Herzfelde verlegt worden. Und er fragt mich: »Wissen Sie, wo ich das geschrieben habe? In einem Stundenhotel der Joachimsthalerstraße, in dem ich für einige Tage abgestiegen war. Ich war der
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