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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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einzige Gast, der abends die Schuhe vors Zimmer stellte.« Und in ein Widmungsexemplar des Buches fügte er dem hinzu: »Ich schrieb es, während ich in einem fort masturbierte.« Zur Zeit der Rheinlandbesetzung durch die französischen Truppen habe er sich übrigens um die sexuelle Versorgung der Deutschen gekümmert und sich dafür eingesetzt, dass in Saarbrücken ein Bordell eröffnet wurde. Er habe sogar für ein mechanisches Klavier gesorgt. Und nachts sei das Etablissement dank seiner Intervention allein für Deutsche reserviert gewesen. Alles, was Aragon hier oben unterm Dach umgab, lebte vom Kontrast, koppelte Wirklichkeitsebenen und zahllose Straten seines politischen und kulturellen Appetits. Jeder Winkel der Wohnung war von Erinnerung ausgefüllt. Bücher, Bilder und Hunderte Zeichnungen von Picasso, Max Ernst, Matisse, Masson, Magritte, Duchamp, Man Ray, Titus-Carmel – und dann und wann ein russischer Künstler, von dem der Besitzer sagte, er sei ständigen Verfolgungen ausgesetzt gewesen. Als überraschendstes Stück der Sammlung zeigte er mir an einer Wand ein Exemplar von Duchamps provokantem »L.H.O.O.Q.«, der mit einem Schnurrbart verzierten Mona Lisa. Und er verriet mir mit maliziösem Lachen, dass er diese Arbeit Georges Marchais, dem Generalsekretär der kommunistischen Partei, vererben werde. Der Gedanke, dass diese erotisch-koprophile Halluzination bei den Genossen einiges an Aufregung bewirken werde, erfreute ihn diebisch. Doch die unerwartete, magere Donation wurde von der Partei entschärft und kurze Zeit nach dem Tode Aragons dem Centre Pompidou als Dauerleihgabe übergeben. Abgesehen von dieser provokanten Arbeit werde er der Partei sicher nichts hinterlassen. Zum Zeichen seiner kritischen Munifizenz zeigte er mir an der Wand ein Diplom, in dem ihm vom Parteisekretär Marchais bestätigt wird, dass der Kamerad Louis Aragon der KPF eine Schenkung von 50 Francs übergeben hat. Alle Kunstwerke, die an den Wänden hingen, wolle er dem Verleger Gallimard überlassen, damit dieser sich um das Museum Aragon und Elsa Triolet kümmere, das im Landhaus der beiden, im Moulin de Villeneuve in Saint-Arnoult, eingerichtet werden sollte. Ich glaube nicht, dass viel von der einzigartigen Sammlung zusammengeblieben ist. Einmal war ich bei Aragon, als er Ernst Beyeler ein schönes frühes Bild von Max Ernst – wie Aragon meinte, das erste Erdbebenbild, das noch in Köln entstanden war – für 300.000 Francs verkaufte. Er sei auf dieses Geld angewiesen, da er die Summe für die Sommerferien, die er eben mit einigen Freunden in der Nähe von Cassis an der Côte d’Azur verbracht hatte, aufbringen müsse. Das strenge, prüfende Gesicht Elsas – überall in der Wohnung blitzte es auf – überall sah man Fotos, Zeichnungen von Matisse von ihr. War sie Aragons »Belle Dame sans Merci«? In jeder Zeile, die er seit der Begegnung mit ihr schrieb, tickt diese unerbittliche Allgegenwart.
    Elsa führte Aragon erstmals in die Sowjetunion. Kein Zweifel, dass die Hinwendung zu einer Literatur, die Bewegung und konkrete Wirkung zum Ziel hatte, am sowjetischen Modell ausgerichtet ist. Majakowski habe auf Aragon wie eine Offenbarung gewirkt. Jedes Jahr versuchte er im Herbst auf der »Fête de l’Humanité« die bardenhafte Wirkung von Majakowskis Dichtung mit der Rezitation seiner Verse zu erreichen. »Hourra l’Oural« aus dem Jahre 1934 zeigt seine Faszination von dieser öffentlichen Rhetorik. Beim Besuch sprach Aragon davon in den Kategorien des Entdeckens, des Eindringens in eine exotische Welt. Der visuelle Anreiz, den er dabei empfangen hatte, war ihm unmittelbar anzumerken: »Man macht sich keine Vorstellung von diesem phantastischen Leben, von dieser phantastischen Armut. Der Aufbruch in den Ural, das war die russische Version des amerikanischen Go West.«
    Dies gehöre zu den Gründungslegenden der sozialistischen Gesellschaft. Und er erzählte eher gerührt als beschämt: »Der Bürgermeister einer kleinen Stadt überbrachte uns als Geschenk ein Huhn. Seit Jahren hatte man in diesem Ort kein Huhn mehr gegessen.« Vom Realisten löst sich der Liebhaber seltener und seltsamer Situationen. Und Aragon setzte hinzu: »Unvorstellbar die Armut der Leute, die im Kaufhaus GUM in Moskau die Objekte in den verschlossenen Vitrinen umlagerten. Für sie ungreifbare, ungesehene Dinge. Man konnte sie nur mit ausländischer Valuta kaufen.« Typisch für Aragon war die parataktische Konstruktion beim Erzählen, das

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