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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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Stündlich packt sie mich von neuem. Ich muss meine Grenzen auskundschaften. Alles treibt mich zu neuen Abenteuern.« Ich glaube, zu diesem Bekenntnis war er bereit, weil er in diesen letzten Jahren nichts anderes wollte, als die Achtung Max Ernsts wiederzugewinnen. Und er wusste, dass es dafür keinen besseren Vermittler gab als mich. Vielleicht rührte von seinem spät erkannten Unglück in politischen Dingen die lähmende Resignation, die derjenige spürt, der sich auf den ganzen Aragon stürzt und schon deshalb all die Einlassungen nicht unterschlagen kann, in denen dieser mit geradezu masochistischer Gier sein Genie dem sozialistischen Realismus zum Fraße vorwarf. Auch seine Selbstkritik stilisierte er, wenn er seine jugendliche Faszination für Lautréamont leugnete: »Ich war ein seltsam nichtadaptiertes Wesen. Die Exzesse der Formulierungen rissen mich hin. Und wie alle meine Freunde goutierte ich das, was schlecht ausging und monströs war.« Nicht zu unterschlagen sind die Schriften, in denen er den Stalinismus anhimmelt oder in denen er den sinisteren Lyssenko zum Galilei unserer Zeit ausruft. Ermisst man Aragons Sprung aus der Subjektivität in die Bezirke tribunhafter politischer Wirkung, so möchte man geradezu vor der sich hier offenbarenden Kompetenzlosigkeit erschrecken. Es käme einem wie Betrug vor, dieses Leben, das in unentwegter Kurskorrektur abwechselnd das berührt hat, was man preisen und verabscheuen kann, auf einen hochtönenden Nenner zu bringen.
    Dem atemberaubenden Individualismus der frühen, zwischen der Revolte Dadas und der surrealistischen Epiphanie des Diesseitigen brillierenden Bücher macht der Parteigänger Andrej Schdanows Platz, der nach einem Auftritt als historisierender Troubadour im Rahmen engstirniger Kaderhörigkeit weiter Literatur als Macht ausübt. Dafür hat er auch seinen höchsten Preis entrichtet, im Eingehen auf die Forderungen nach einem sozialistischen Realismus, die auf dem 1. Sowjetischen Schriftstellerkongress 1934 in Moskau von Schdanow vorgetragen wurden. Zu welcher Akrobatik und Selbsterniedrigung dieser genial ausstaffierte Mann bereit war, lässt sich in den stolzen Selbstdarstellungen der französischen Kommunistischen Partei, die oft mit Aragon Katz und Maus spielte, weit besser ablesen als in den zahllosen Abrechnungen, die seit dem Hitler-Stalin-Pakt und, fünfzehn Jahre später, seit dem XX. Parteitag von französischen Dissidenten vorgelegt wurden. Gewiss, Aragon hat 1968 mit Vehemenz den Einmarsch in Prag verurteilt. Doch hat damals die französische KP als Ganze auch nicht anders reagiert. Fand diese vom Lippenbekenntnis für den Prager Frühling ziemlich rasch zum Modus vivendi mit Moskau zurück, so musste Aragon die »Normalisierung«, die im Juni 1969 auf der Moskauer Konferenz der kommunistischen Parteien begann, teuer bezahlen: Niemand war geneigt, die Lettres Françaises des Herausgebers Aragon weiterhin zu unterstützen. Rechtfertigte er sich? Aus seinem Gesicht war nichts herauszulesen. Dem großen Kultbild der Elsa gegenüber, neben der Wohnungstür, hing ein Porträt von Byron. Und böse Zungen berichten, jedes Mal, wenn er sich beim Verlassen des Appartements unbeobachtet glaubte, verneigte er sich vor Byron und spuckte auf das Foto von Elsa. Seit seiner Kindheit, meinte Aragon, liebe er Byron, und er sagte, er mache sich jetzt immer wieder ein Vergnügen daraus, bei öffentlichen Auftritten aus dem Buch Lord B seines Freundes Jean Ristat zu lesen, und zwar mit englischem Akzent. Offenbarte sich Aragon hier über das hinaus, was er in seinem Gespinst des »mentirvrai«, seines »Wahrlügens«, verschwieg? Fand er nun in Byron, so wie früher in Rimbaud, ein Porträt, das er usurpieren kann? Byrons von Milton gespeister Satanismus? Wäre das gar ein Fingerzeig? Doch beendete er in dem Augenblick das Gespräch, als er spürte, wie das »Wahrlügen« in ein Bekenntnis kippte. Er fügte hinzu: »Die Dinge, für die ich lebe und für die ich mich geschlagen habe, sind dieselben geblieben. Einundfünfzig Jahre lang bin ich nun ein Kommunist. Ich habe es nie bereut, selbst wenn ich das eine oder andere entsetzlich fand. Ich wünschte, es ließe sich ändern.« Doch dann setzte er hinzu: »In einem gewissen Sinne war mein Einsatz zu hoch. Ich hoffte, es ließe sich ändern.«
    Man erlaubte sich, wenn in den sechziger und frühen siebziger Jahren von Picasso die Rede war, maßlose Urteile, und diese sind bis heute nicht verstummt. In

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