Mein Glueck
getroffen. Diese Bemerkung zielte für den Spanier auf seine Mannesehre und implizierte Impotenz, Hinfälligkeit, Alter und Unfreiheit. Seine Antwort fiel so aus, wie in der Regel alle Antworten Picassos ausfielen: Er diskutierte nicht, er argumentierte nicht mit Worten, sondern griff zu einem Bleistift und einem großen Stück weißen Papiers, die vor ihm auf dem Tisch lagen, und brachte auf rasche, völlig ruhige Weise, ohne abzusetzen, einen perfekten Kreis aufs Blatt. Ich war für diese Lehrstunde überaus dankbar, denn sie beeindruckte mich nicht nur auf beispiellose Weise. Sie forderte mich vielmehr auf, Argumentation und Wahl des Vokabulars im Umgang mit diesem »Spätwerk« grundsätzlich zu überdenken. Die Gründe für das offene Spätwerk, für die so expressiv wirkenden Bilder aus dieser Zeit konnten nichts mit einer physiologischen Schwäche, mit einem »Nichtmehrkönnen« zu tun haben. Im Gegenteil, hier musste man von einem anderen Wollen sprechen. Und dabei fiel die Entscheidung des Malers ganz anders aus als die des Zeichners.
Ich begriff es also als Auftrag, in einer Ausstellung und in einer Publikation etwas über die Gründe für diese Trennung zwischen dem Maler und dem Zeichner herauszufinden. Das, was man in den späten Bildern als expressionistisch bezeichnen konnte, das, worauf sich bald eine aktuelle künstlerische Szene unter der Bezeichnung Neue Wilde, neoexpressionistische Malerei oder Punkmalerei bezog, also der Picasso der Avignon-Bilder, blieb genauer betrachtet lediglich eine Facette in dem Werk der späten Jahre. Es war die Facette des reinen Malers. Und dessen Rasanz stand fast immer in einem dialektischen Widerspruch zu dem, was der Zeichner entwarf und realisierte. Das heißt: Die von Kritik und Handel behauptete »Aktualität« des späten Picasso, die in einer Reihe von Ausstellungen die Strömung einer wilden und expressiven Malweise legitimieren sollte, erscheint oberflächlich, ja als Verfälschung des Werkes. »Bad painting«, »wilde Malerei« imitierten stilistische Mittel Picassos, übersahen jedoch das Entscheidende: Dem »wilden« Picasso stand immer, auch in den allerletzten Jahren, ein »langsamer« Picasso entgegen, der in den Zeichnungen seine Erinnerung und sein Metier nach wie vor souverän einsetzte. Auch die Spätzeit lebt also von der Gleichzeitigkeit differenter Ausdrucksformen. In den Arbeiten, die ich bei Kahnweiler oder in Mougins sehen konnte, schien mir dieses Prinzip nachweisbar zu sein. Von der Sicherheit der Linienführung im graphischen Bereich sprachen nicht zuletzt die annähernd achthundert Radierungen, die Picasso mit Hilfe von Piero Crommelynck innerhalb kurzer Zeit in Mougins entwerfen konnte. Die stupende Genauigkeit des Strichs, der Verzicht auf Reuezüge hatte bereits in Clouzots »Le mystère Picasso« beeindruckt. Hier konnte man miterleben, dass es für Picasso keinen Radiergummi gab, dass er blitzartig über eine Komposition eine andere legen konnte, ohne dass sich danach eine Schnittstelle ausmachen ließ. Und in diesen letzten zehn Jahren, die der Künstler in Mougins verbrachte, tritt noch etwas anderes hinzu, ein ungewöhnlicher Umgang mit Zeit. Und dies vor allem im Bezug auf die Menge der entstandenen Arbeiten, nie waren es mehr. Ich ging nun von der Prämisse aus, dass Picasso in seiner Unruhe in jedes Werk, sei es ein Bild, sei es eine Zeichnung, sei es eine Radierung, immer dasselbe Quantum Zeit zu investieren bereit war. Es schien, als ob er in seinem Kopf über eine unsichtbare Stechuhr verfügte, die die Arbeitszeit an einem Werk registrierte. Dies illustrierte auf spektakuläre Weise die Ausstellung, die ich unter dem Titel »Malen gegen die Zeit« in der Albertina und in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zeigen konnte. Die Zusammenarbeit mit Klaus Albrecht Schröder und Armin Zweite war wie immer harmonisch, spannend, machte mich glücklich. Nicht zuletzt auch, weil dieses neue Thema unser aller Neugierde anstachelte und unsere bis dahin gültige Vorstellung von Picasso in Frage stellte.
Aus der Rückschau lässt sich die polemische, oft hämische Ablehnung des Malers Picasso zeitlich genau einordnen: In den sechziger Jahren hatte sich die ästhetische Diskussion, zumindest in Frankreich, mit einem Schlag fast ausschließlich dem Werk Marcel Duchamps zugewandt. Im Umkreis Duchamps oder Picabias, die das Konzeptuelle in den Vordergrund rückten, war kein Platz für eine derart eruptive Produktivität. Die Priorität,
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