Mein Glueck
die der Zeitgeist den Skeptikern und Ironikern einräumte, kann man als Reaktion auf die demiurgische Kraft Picassos verstehen. Picasso schmähen war richtiggehend zu einem Sport geworden. Denn die Exaltation der Körper, die in diesen letzten Bildern und Zeichnungen in Erscheinung tritt, widersetzt sich jeder Vorstellung von Sublimation, die man in Spätwerken meinte auffinden zu müssen. Ja, Picassos Vitalität erschien als Ausdruck von Schamlosigkeit, als das Werk eines Mannes, der nicht aufgeben wollte. Die Revision setzte bald ein. Und diese war – dies sei zu Ehren der Künstler gesagt – die Tat einer jungen Generation von Malern. Die ungewohnten Bilder animierten nicht nur zu einer expressiven Malweise, sie hoben die verblockte Geschichte der jüngsten Avantgarde auf. Clouzots Titel »Le mystère Picasso« bietet – obwohl dieser eher aus dem Fundus des Kriminalistischen schöpft, das der Cineast auf so bedrückende Weise bedient – letztlich die kurze und unergründliche Formel an für einen Künstler, der wie kein anderer mit Zeit spielte. Ab 1920 greift Picasso zu dem, was man Verwirrung des zeitlichen Ablaufs, Aufgabe der Teleologie und einer hegelianischen Ordnung nennen kann. Er zieht gleichzeitig die verschiedenen Modi heran, die er geschaffen hat. Er betreibt mit seinem Werk eine Art von Historismus, der es dem Außenstehenden erschwert, die Arbeiten im Ablauf ihres zeitlichen Entstehens wahrzunehmen. Die Ausdrucksformen – kubistisch, biomorph, realistisch, abstrahierend – treten nebeneinander auf. Was ist jung, was ist alt? Das will nicht mehr beantwortet werden.
Es ist kaum möglich, sich angesichts der Produktion eines Jahres, eines Jahrzehnts eine Vorstellung von der chronologischen Folge zu machen. Was steckt hinter den Brüchen, die das Œuvre in Szene setzt? Von heute aus betrachtet, erscheint es, als habe Picasso gewusst, dass der moderne Mensch keine Dauer ertragen kann, sondern nach Sensationen, Überraschungen und immer neuen Informationen strebt. Von Andy Warhol stammt der bis zum Überdruss strapazierte Satz, jedem Menschen stünden fünfzehn Minuten Unsterblichkeit zu. Die sternschnuppenartige Präsenz, auf die Warhol zufolge jeder einen Anspruch erheben könne und in der ein Lebensmoment vor aller Augen aufleuchtet, lebt von ihrer Unverwechselbarkeit. Es sind Sekunden, die keine Korrektur ertragen und die – nehmen wir Warhols Bilder von »Desasters« – letztlich mit der Coda der individuellen Existenz zusammenfallen. Das Verfallsdatum ist den Menschen aufgeprägt wie den Suppendosen, die Warhol zum Gegenstand seiner Kunst machte. Warhol verfolgt in seinem Werk eine Taktik, die ihre Energie aus einer immer neuen Befriedigung des Distraktionsbetriebs bezieht. Es besteht kein Zweifel daran, dass Picasso diesen beschleunigten Rhythmus ins Spiel gebracht hat. Aber noch mehr: An die Stelle von Entfaltung tritt bei Picasso als Wertmaßstab die ständige Veränderung. Diese verläuft nicht linear-progressiv, sondern sie springt nach vorne und zurück, sich selbst stets neu erfindend. Die Suche nach der Erklärung für die außergewöhnlichen stilistischen Differenzen zwischen den verschiedenen Phasen seines Werks muss diese metamorphotisch-vitale Bewegung des künstlerischen Schaffensprozesses, in dem die eigenen Grundlagen immer aufs neue in Frage gestellt werden, in den Blick nehmen. Die Methode, die hier erkennbar wird, kann man mit dem Ausweg vergleichen, den Kierkegaard aus der modernen Stimmung par excellence, aus der Langeweile, anbietet. Als Heilmittel gegen Abnutzung und Repetition ruft der Philosoph zur Wechselwirtschaft auf. Sie garantierte Überraschungen, und sie vermöge die unverbrauchte Jugendlichkeit wachzuhalten. Das Bedürfnis nach immer Neuem berührt sich mit dem, was Sigmund Freud im Blick auf die Strukturen der menschlichen Psyche festgestellt hat. In der Schrift Das Unbehagen in der Kultur finden wir eine Stelle, die die Unruhe Picassos beleuchten kann: »Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen. Wir sind so eingerichtet, dass wir nur den Kontrast intensiv genießen können, den Zustand nur sehr wenig.« Picasso – es gibt kein anderes Werk in der Kunstgeschichte, in der Geistesgeschichte, das derart mit dem Wechsel spielt. Zweifellos hat Picasso unsere Vorstellung vom Künstler aufgebrochen, denn es gibt viele Picassos. Seine Taktik ist es, im Gegensatz zu dem, was sonst den Kunstbetrieb auszeichnet
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