Mein Glueck
Kunstpraxis auf Flugbahnen eingeschwenkt. Zur Zeit des großdeutschen Wahns erhob er sich als Flieger in Görings Lüfte. Rasch zielte die Laufbahn des jungen Bildhauers auf Stahlgewitter der optischen Art: Draht- und Röhrenbündel, parallele Stabformationen schossen in den fünfziger und sechziger Jahren aus Krickes Atelier ins Freie. Dieser so auftrumpfende, vierschrötige Mann besaß eine Sensibilität, die auf die Leugnung der Schwere aus war. Ich hatte dieses auffällige Verhältnis von Physis und Delikatesse zuvor nur bei Calder miterleben können, der seine zerbrechlichen Mobiles und Zirkusfiguren trotz seiner schwerfällig dicken Finger mit äußerster Genauigkeit und Sorgfalt manipulierte. Mit diesen verglichen, erschienen mir die erfolgreichen Metallskulpturen Venets wie dicke Nudeln al dente. Nach und nach spürte ich, dass für Kricke und seine Frau diese Suche nach Leichtigkeit teuer erkauft war. Die tiefe Depression, in die er immer wieder verfiel, von der ihn auch der größte Erfolg nicht erlösen konnte, endete für beide im Desaster.
Die Begegnung mit Norbert Kricke in Saint-Paul-de-Vence hatte Folgen. Eines Tages erhielt ich einen Brief, in dem er mir im Namen der Kunstakademie Düsseldorf vorschlug, einen neu eingerichteten Lehrstuhl für die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts zu übernehmen. Ich fand diese zeitliche Begrenzung symbolisch, denn im Jahr 2000 sollte ich wie das Jahrhundert auch die Altersgrenze erreichen. Dem folgte ein Telegramm, in dem Kricke mit üblichem Witz die Ernennung bestätigte: »BEAMTER STOP URKUNDE IN MEINER HAND STOP SOFORT KOMMEN STOP VORSICHT BEI ANREISE BEI TOD KEIN GELD AN WITWE WENN URKUNDE NICHT AUSGEHAENDIGT GRUSS N + H«.
Ich fand es aufschlussreich, dass das Haus gerade zu dieser Zeit einen Lehrstuhl für die Kunstgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts einrichtete, da sich die Beschäftigung mit diesem Jahrhundert immer mehr auf die Befragung des vorhergehenden neunzehnten verlagert hatte. Überall traf man auf ein Phänomen, das man mit dem Ausdruck »Rückwärts-Problematisierung« umschreiben könnte. Ein ganzer Zweig der Kunst – Spurensucher, Archäologen, Dokumentesammler – begann sich diesem Zweig zuzuwenden. Alles sprach dafür, dass, wer sich mit dem zwanzigsten Jahrhundert auseinandersetzte, seine Bohrlöcher in das blinde Gestein des niederen neunzehnten Jahrhunderts zu treiben hatte. In puncto Lehre und Unterricht verfügte ich über keinerlei Erfahrung. Ich vertraute nur darauf, dass ich zahllose Stunden mit Künstlern und Schriftstellern verbracht hatte und auf diese Weise eine Anschauung dessen gewonnen hatte, was sich auf beiden Seiten des Atlantiks in den Museen, Ateliers und Galerien abspielte. Ich nahm die Stelle an und betrat mit Bangigkeit das monumentale Gebäude, dessen glorreiche Geschichte jeden einschüchtern musste. Meine zahlreichen Reisen in die USA, nach Japan, die Vertrautheit mit den Museen minderten die Scheu. Ich war glücklich, in den Seminaren von meinen Begegnungen und Eindrücken zu erzählen, wie etwa von den Besuchen im Atelier Roy Lichtensteins in der 29. Straße, einer so typischen Mischung aus Laboratorium und Fabrik, in der Assistenten oder Archivare die Produktion und die Rezeption verwalteten. Als Arbeitszimmer bekam ich in der Eiskellerstraße ein großes Atelier im zweiten Stock. Über all die Künstler, denen ich hier begegnete, hätte ich schreiben können. Kricke sprach diesen Punkt an, sobald ich meine Professur eingenommen hatte: »Jetzt bist du mir aber eine Monographie schuldig.« Meine Antwort war eindeutig und klärte ein für alle Mal die Beziehungen: »Solange ich hier unterrichte, kann ich über keinen Kollegen schreiben.« In manchen Fällen bedeutete dies ein Opfer. Zu gerne hätte ich mich viel früher mit Gerhard Richter und Hilla und Bernhard Becher beschäftigt.
In meiner ersten Vorlesung beschäftigte ich mich mit Dada. Nach und nach spürte ich, dass für viele Studenten, die Künstler werden wollten, der Blick auf Kunstgeschichte etwas Verwirrendes hatte und sie sich bei der Beschäftigung mit ihr in ihrer Spontaneität und Unabhängigkeit bedroht fühlten. Diskussionen à la Nietzsche über Nutzen und Nachteil der Historie für die Künstler zeigten, dass es für angehende Künstler problematisch und demoralisierend war, so viel über Techniken und malerische Erfindungen zu erfahren. Bei manchen spürte man eine richtiggehende Feindseligkeit gegenüber dem Wissen. Sie erhofften
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