Mein Glueck
Picassos und vor allem über dessen Raumzeichnungen. In seinen Entwürfen für das Grab Apollinaires hatte er ein »Monument aus Leere« vorgeschlagen, mit dem er das Nichts gefangensetzen wollte. Picasso selbst hatte mit der Bemerkung, er wolle einen Wunsch Apollinaires erfüllen, zu dieser Deutung Anlass gegeben. Er fragte mich, ob ich Apollinaires Le poète assassiné gelesen hätte. In diesem Schlüsselroman, in dem Picasso als »L’Oiseau du Bénin« auftritt, frägt Tristouse, die Frau des ermordeten Dichters Apollinaire, den Künstler, welche Art von Statue er für den Freund ausführen wolle. Eine Statue aus Marmor oder aus Bronze? Picasso/L’Oiseau du Bénin antwortet: »Ich will ihm eine tiefe Statue aus Nichts errichten, wie die Poesie und wie der Ruhm.« Apollinaires Buch hatte ihn zu dieser Lösung angeregt. Die Schilderung legte Picasso nahe, ein Concetto zu finden, das die schwerfälligen Materialisierungen zu überwinden vermöchte. Er reagiert mit seinem Vorschlag nicht zuletzt gegen den obsoleten Denkmalgedanken des neunzehnten Jahrhunderts. Wir sprachen über Giacometti, der in seinen ausgehungerten Skulpturen seine eigenen Grenzen in den Raum projizierte. Dabei ging es um eine Leugnung von Materie, die Kricke nicht zuletzt im Gegensatz zu Beuys betrieb. Zusammen fuhren wir zum »Hotel du Cap« in Antibes, besuchten in Saint-Paul die Matisse-Kapelle. Norbert Kricke verfügte in seiner Diktion über eine große Anschaulichkeit, hatte sprühenden Witz, und er führte in seinem Köcher wenn nötig auch tödliche Waffen. Manche seiner Charakterisierungen waren von entwaffnender Liebenswürdigkeit, so wenn er eine Dame, die er häufig von Amts wegen sah und die sich für die Autonomie der Kunstakademie einsetzte, auf zärtliche Weise Schneewittchen nannte. Und das damit begründete: »Seht ihr denn nicht, dass der Apfel im Hals steckengeblieben ist?« Nichts konnte ihn daran hindern, sich kritisch über andere Künstler zu äußern und so etwa Yves Kleins misslungene Auftritte als von den Japanern mit den höchsten Graden versehener Judoka im Rheinland zu parodieren. Norbert erschien mir als ein lebenslustiger, fröhlicher Mensch, der bereit war, sein Glück am Sehen mit anderen zu teilen. Wenn er über den »blitzeschleudernden Zeus« aus Olympia redete, offenbarte er nicht nur seine Bildung, sondern auch seine eigene Erregbarkeit durch Formen, der er in seinen Abbreviaturen klassischer Kunst einen Nachhall zu verschaffen suchte. Carola Giedion-Welcker, die ihn früh entdeckte, nannte ihn einen »Ritter von Raum und Zeit«. Farben sorgen in seinen Skulpturen dafür, dass in den »Verlaufsfiguren« (Max Imdahl) die dünnen Drähte ihre Geschwindigkeit zu verlangsamen oder zu beschleunigen vermochten. Norbert Kricke war, wie es Günter Engelhard einmal beschrieb, ein Naturereignis, und die Natur ließ sich in seinem Fall nicht lumpen. Als er sich im Frühsommer 1975 , bei einem meiner ersten Besuche, anschickte, seine metallischen Gebilde zeitgleich wie Blitze ins Duisburger Lehmbruck-Museum, in die Düsseldorfer Kunsthalle und dicht daneben in die Galerie von Hans Mayer und Denise René zu schleudern, fühlte sich Zeus herausgefordert. Die Blitze zuckten am Himmel. Einer davon schlug auf der linken Rheinseite im Düsseldorfer Stadtteil Oberkassel ein. In der Habsburgerstraße 10 stürzte der Regen durch das Laub einer mächtigen Platane. Drinnen in Krickes Haus fand die Gegenbewegung statt: Kleine Drahtplastiken standen auf dem Boden, streckten nervös ihre Fühler aus und sprühten wie Fontänen. Vom Dachboden drang das aufgeregte Gurren einer Hundertschaft von Brieftauben, die Kricke auf überaus zärtliche Weise pflegte. Der Züchter wetterte ins Telefon. Eingeschnürt in seinen blauen, von Taubenkrallen zerrupften Arbeitsbademantel, sandte er meteorologische Rapporte in Richtung Melun, südlich von Paris. Dort saßen ebenso aufgeregt die Mitglieder des Reiseflugvereins mit zweitausend Tauben. Gespannt lauschten sie auf den Wetterbericht des erfahrenen Vereinsmitgliedes Norbert Kricke, Besitzer der Weltrekordtaube von 1971. Für die 725 Kilometer lange Strecke von Limoges nach Düsseldorf hatte der siegreiche Vogel nur zehn Stunden gebraucht.
Norbert Kricke und Werner Spies
Die Tauben waren Akteure seiner Kunst. Seit seinem vierzehnten Geburtstag, als er sein Taschengeld für den ersten fliegenden Postboten opferte, war der angehende Student der Bildhauerei in seiner Lebens- und späteren
Weitere Kostenlose Bücher