Mein Glueck
unerhörten sprachlichen und kulturellen Eigenarten, die dem Elsass zur Verfügung standen, keinen übernationalen Besitz werden zu lassen. Tomi Ungerer trauert der Doppelköpfigkeit nach, die er in einem Bonmot ironisch anklingen lässt: »Unsere Stärke liegt in unserer Vielseitigkeit. Wir sind ein gemischter Schlag. Sind wir die Deutschen von Frankreich? Oder die Franzosen von Deutschland?« Über die unüberwindliche Distanz – so unbezweifelbar wie die Antinomien bei Kant – gilt es nachzudenken, mit ihr Umgang zu haben und nicht einfach in Sonntagsreden mit dem Hinweis auf eine inzwischen selbstverständliche Symbiose zwischen Deutschland und Frankreich wegzureden. Die Ausstellungen seiner Werke, die ich im Max-Ernst-Museum in Brühl und dann erweitert zusammen mit der wunderbaren, begeisterungsfähigen Sylvia Weber in der Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall zeigen konnte, haben ihm – das sind die eigenen Worte Ungerers – die Würde eines Künstlers gegeben. Es war angemessen, ihm als erstem den Preis der neu gegründeten Académie de Berlin zuzuerkennen.
Nach der Einweihung der Fondation Maeght in Saint-Paul-de-Vence an der Côte d’Azur fuhr ich regelmäßig dorthin, um über die Ausstellungen zu schreiben. Das elegante Haus von Josep Lluís Sert veränderte 1964 die kulturelle Landschaft in Frankreich sicher stärker als die Kulturhäuser, die Malraux eingerichtet hatte. Das Museum verdankte seinen großen Erfolg dem Tourismus an der Côte d’Azur und den Sommerfranzosen. Nur in dieser Jahreszeit schienen sie bereit zu sein, auf etwas zu achten, was sich außerhalb der Hauptstadt abspielte. Zur Eröffnung am 28. Juli 1964 durch André Malraux hatte mich Aimé Maeght, den ich regelmäßig in seiner Pariser Galerie aufsuchte, eingeladen. Auch Max Ernst und Marcel Duchamp kamen an diesen paradiesischen Ort. In der Nähe, hinter Bandol, lebten den Sommer über Yves und Germaine Rouvre, bei denen wir mehrmals Ferien in einem vom Mistral umtosten Haus zwischen Weinbergen verbrachten. Germaine war exaltiert, lebte von einem Abenteuer, das sie einmal mit Michel Leiris hatte. Von Leiris’ Traumtexten bewegt, begann sie, ihre eigenen Nächte zu erkunden. Die Seiten, die sie mir übergab, zeigten allerdings, dass das, was man bei ihr erlebte, letztlich aufregender war als die montierten Reverien. Der Maler Yves Rouvre, ein feiner und liebenswürdiger Mensch, der keinerlei Ansprüche an die Nachtwelt stellte, gehörte zu den letzten Entdeckungen Kahnweilers. André Masson hatte diesen auf den unbekannten Künstler aufmerksam gemacht, der damals hinter Aix in einem Atelier im Château Noir arbeitete, das Cézanne berühmt gemacht hatte. Das Aufeinandertreffen von Vegetation und mineralischer Struktur in den Bildern Rouvres führte in die Nähe einer Tektonik, die Kahnweiler interessierte. Er sah in Rouvre anfangs gar einen ernstzunehmenden Nachfolger der Cézanne’schen Landschaftsmalerei. Auch wenn er in seiner Pariser Galerie so gut wie nie Ausstellungen von Rouvre zeigte, blieb er ihm treu, bezahlte ihm ein monatliches Salär und stand zu ihm.
Bei einem der Besuche in Saint-Paul hatte ich in einem kleinen Hotel übernachtet. Morgens beim Frühstück auf der Terrasse saßen einige Tische weiter drei Männer und diskutierten freudig und angeregt auf Deutsch. Was sie redeten, interessierte mich so sehr, dass ich nicht an mich halten konnte und mich schnell einmischte. Die Passion, mit welcher die Unbekannten über Skulptur sprachen, war aufregend. Ich begegnete erstmals Norbert Kricke. Er war mit zwei Mitarbeitern aus Düsseldorf angereist, um auf dem großen, sich in eine Kuhle senkenden Rasen zwischen den Pinien der Fondation seine Skulptur »Die große Fließende« zu installieren. Zu den Assistenten gehörte der Bildhauer Paul Isenrath, den ich später regelmäßig bei Norbert und Herta Kricke in der Habsburgerstraße in Oberkassel treffen sollte. Sofort kam ein langes, intensives Gespräch über Skulptur zustande. Kricke hatte eine auffallende Begabung, plastische Formen und deren Beziehung zu Leere und Raum zu beschreiben. Sie waren sein Arbeitsmaterial. Doch er war dabei kein Konstruktivist, sondern es ging ihm darum, sich auf emphatische Weise gegen das Funktionelle und Körperlich-Begrenzte zu wehren. Aus diesem Grunde verehrte er auch Brancusi, in dessen Bronzen sich die Materie selbst wegspiegelte. Kricke spricht von einer »ungreifbaren Augenkunst«. Wir sprachen auch über die Skulpturen
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