Mein Glueck
gewollt. Die Begründung dafür liegt in der Kritik an Zeitgeist und avantgardistischer Permissivität. Die barocke Saftigkeit Boteros, die aus allen Poren dringende Sinnlichkeit wölbt das Fleisch der Leiber, der Landschaften und der Dinge auf ein und dieselbe Weise. Es sind antiplatonische Genüsse, denen wir auch in Vargas Llosas Romanen auf Schritt und Tritt begegnen. Dieser verweist denn auch auf die in der spanischen Welt selbstverständliche Gleichsetzung von »hermoso« (schön) mit der Fülle der stattlichen, gutgenährten Person. Vargas Llosa prägte das Wort von »der schöpferischen, ›kannibalischen‹ Verarbeitung der europäischen Kunst«, die Botero in Angriff genommen habe. Es ist ein Lustprinzip, das dem Puritanismus Angst einjagen muss. Boteros strotzende Gegenständlichkeit, in die sich das Sehen mit allen Zähnen verbeißt, strahlt etwas von der unheimlichen Faszination durch die »essbare Schönheit« aus, mit der Dalí und Buñuel die Exaltation des Fleisches, den Biomorphismus der späten zwanziger Jahre feierten. Bei ihm wird aus dieser durchgehenden pneumatischen Polsterung der Welt Stil. Das Aufgeblähte erscheint geradewegs dialektisch zu Giacomettis schattenhafter Reinkarnation des kafkaesken Hungerkünstlers. Indem er alles, was er malt und zeichnet, einer durchgängigen Fülle unterordnet, verliert diese ihren psychologischen, bewertbaren Aspekt.
Werner Spies und Fernando Botero
Ich litt darunter, dass im Kunst- und Galeriebetrieb, beinahe wie in der Mode, immerfort neue »Kollektionen« auftauchen mussten. Im übrigen war es demoralisierend, mit anzusehen, wie der Jubel über eine neue Entdeckung bereits nach wenigen Wochen oder Monaten wieder verflogen war. Doch ich spürte andererseits, dass ich nicht als der »Picasso-Spies« oder »Max-Ernst-Spies« mein Leben verbringen wollte. Das Glück, diese großen Jahrhundertfiguren gekannt zu haben, trieb mich an, mit den Kategorien, die mich im Umgang mit ihnen geprägt hatten, regelmäßig das Neue und Neueste, das mich irgendwie affizierte, auf den Prüfstand zu stellen. Einiges ließ mich nicht mehr los. Rebecca Horns sanfte Kratzbürstigkeit, Nam June Paik, Robert Longo, Erwin Wurm oder Neo Rauch erweiterten mein Verständnis von Bildern und Skulpturen. Dazu gehörte auch früh Jean-Pierre Raynaud.
Ich besuchte ihn in den sechziger Jahren zusammen mit Günter Metken, der eine Nase für das spannende Neue hatte. Ich kannte niemanden, der mit einer derartigen Leidenschaft dem Anerkannten und Domestizierten aus dem Weg ging und Zwischentöne wahrnahm. Über Hierarchien und Werturteile setzte er sich auf souveräne Weise hinweg. Raynaud hauste in einer Dienstmädchenkammer unterm Dach eines Wohnhauses in der Nähe des Pariser Ostbahnhofs. Es war später am Abend, bei anbrechender Dunkelheit. Wir kamen im zweiten Stock durch einen weiten Saal, in dem viele Paare tanzten. Es brannte kein Licht. Es war kaum etwas zu erkennen. Nur Schemen, die sich nebeneinander bewegten. Dies war eine Zusammenkunft von Blinden. Oben trafen wir einen alles andere als einnehmenden Künstler. Etwas Beklemmendes ging von seiner eingekapselten Selbstsicherheit aus. Man spürte bei Raynaud Verletzungen und eine Blockade dem Leben gegenüber. Es waren die Traumata eines Kindes, das den Tod des Vaters, der bei einem Bombenangriff getötet worden war, nicht überwinden konnte. Raynaud wurde in eine Gärtnerlehre geschickt, zum Wehrdienst eingezogen und kehrte in ein Haus zurück, in dem drei Frauen regierten. Ein Jahr lang verließ er das Bett nicht. Die Mutter fütterte ihn. Er las nicht, sinnierte vor sich hin und wuchs noch um einige Zentimeter. Es ist eine Szene, die am Rande der Verwandlung Kafkas und Ionescos Amédée oder Wie wird man ihn los zu spielen scheint. Dann kam der Tag, an dem Raynaud endlich wieder aufstand und die Treppe hinunterging. In der Garage fand er Blumentöpfe, einen Sack Zement und einen Topf mit roter Farbe, die Ingredienzen seiner früheren »nützlichen« Arbeit. Er füllte die Blumenscherben mit Zement und bemalte sie rot. Damit sprach er ein radikales Urteil über sein bisheriges Leben, über die pragmatische Arbeit und über die soziale Integration aus. Überall traf man von nun an auf seine hygienischen und moralischen Gesten der Verweigerung.
Den Höhepunkt seiner Suche nach Marginalität erreichte er mit seinem Haus in La Celle-Saint-Cloud, dessen Räume und Mobiliar er aus Tausenden von fünf Millimeter breiten schwarzen
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