Mein Glueck
Lieblingsfarbe der Blinden« antworten wunderbare Aufforderungen zum Träumen: »Die Sterne sind die Satzzeichen einer unsichtbaren Geschichte.« Man muss Tomi Ungerer an einem seiner Lieblingsplätze, dem »Hotel Spielweg«, im idyllischen Münstertal, erleben. Schöner könnte ein Lieblingsort des Künstlers nicht heißen. Das Haus ist im Grunde eines seiner Privatmuseen. Überall hängen Zeichnungen, Karikaturen und Plakate. Und unterm Dach begegnet der Gast einem Paradies, einer Spielzeugwelt, in die sich auch der Erwachsene verlieren möchte. Dort im Schwarzwald trifft man auf einen Tomi Ungerer, der sich von der Hektik der Zeit verabschiedet hat, der auf jede kleine Abweichung der Natur mit Staunen reagiert. Er spielt mit allem, was er sieht. Nicht nur, um den anderen zu belustigen und zu überraschen. Man hat das Gefühl, Tomi Ungerer müsse in jedem Augenblick den Zugang zu den Dingen neu erobern, um Menschen, Tieren und der Natur zu helfen. Immer trägt er in der Manteltasche einen langen, spitzen Nagel, mit dem er viele seiner Schafe in Dun Lough Goleen mit einem Pansenstich zwischen die Rippen retten konnte. Im Winter greift er sich ein langes Stück Eis von einer Dachrinne und setzt es sich so an Nase und Mund, dass der Zapfen wie der gefrorene Strahl eines Brunnens wirkt. Man kann im übrigen keine zwei Schritte mit Tomi Ungerer tun, ohne dass er sich zu dem, was meist übersehen wird, so erstaunt äußert, als begegne er allem erstmals, mit frischen Augen. »Schau mal«, meinte er, als wir in seiner Heimatstadt Straßburg an einer verstrubbelten Trauerweide vorbeikommen, »die geht offensichtlich auch nicht gerne zum Friseur.« Es gibt keinen Augenblick, der Tomi Ungerer nicht eine überraschende Formulierung entlockte. Dann findet er Sätze wie »Ein Gehstock ist ein nackter Regenschirm«. Oder er versinkt in ernste Grübeleien: »Die Zeiger der Uhr stricken die Zeit.« Nichts ist zu groß und nichts ist zu klein für ihn. Darin besteht das Wunder seines Zugangs zur Welt. Nie nutzt sich bei ihm die Frische der ersten Begegnung ab. Und in jedem Augenblick kann das unendliche Spiel mit Assoziationen einsetzen, das den Zeichner und Dichter nährt. Es ist nicht nur von der Trauerweide, von diesem Baum, den er vor sich sieht, die Rede, sondern wir schlüpfen dank Ungerer hinter seine Rinde, wir begegnen einem Kosmos, in dem jedes Ding, jede Pflanze, jedes Tier anthropomorphe Züge annimmt. All dies erinnert an ein Wort von Novalis, das den skeptischen Spätromantiker Tomi Ungerer auf wunderbare Weise charakterisiert: »Jedes Willkürliche, Zufällige, Individuelle kann unser Weltorgan werden. Ein Gesicht, ein Stern, eine Gegend, ein alter Baum usw. kann Epoche in unserm Innern machen.«
Tomi Ungerer und Werner Spies
Er arbeitet unübersehbar nicht auf der Seite des Glücks. Denn Ungerer ist einmal ein Zerrissener, der mit existentieller Qual und Trauer die Schwierigkeit des Elsässers erlebte, zwischen zwei Sprachen und Kulturen zu leben. Es ist ein Thema, das ihn nicht loslässt. Unaufhörlich geht es ihm darum, Borniertheit anzugreifen. Publikationen wie Heute hier, morgen fort oder Die Gedanken sind frei. Meine Kindheit im Elsass , Propaganda – Sammeln gegen Vergessen zeugen von den ständigen Verschiebungen, die er selbst erlebt hat. Dafür hat bereits der Zwölfjährige ein bitteres Wort gefunden. Er trug es im ersten Halbjahr 1943 in sein Schulheft ein: »Ich bin und heiße Hans Ungerer. Ich werde der Wanderer sein.« Einmal wurde ihm die Sprache von den Deutschen, dann von den Franzosen weggerissen. Und der Mann, der an beiden Sprachen und Kulturen hängt, der ein Entweder-Oder nicht ausstehen kann, hat den Verlust stets mit bitteren, schonungslosen Worten beschrieben. Über die Herkunft, über das Elsass schreibt er: »Als Elsässer habe ich das typische Elsässer-Problem: Wer bin ich? Durch dieses Identitätsproblem entwickelt man in der Fremde die Fähigkeit, ein ›Chamäleonist‹ zu sein. Da ich weder eine deutsche noch eine französische Identität habe, kann ich mich überall einmischen: ein Vorteil.« Vom kulturellen Mord ist bei ihm die Rede, den die Franzosen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an den Elsässern begangen hätten. Er kennt keine Beschönigung. Auch der Hinweis darauf, dass die Elsässer während der preußischen Annexion einer radikalen Germanisierung unterworfen wurden, entschuldigt dies in seinen Augen nicht. Die große Dummheit habe darin bestanden, aus den
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