Mein Glueck
armseligen Materialien und Liturgien, die diese Prosa beschreibt, beschäftigten ihn offensichtlich. In der Tat erscheint mir mehr und mehr, dass hier Verbindungen bestehen, die ich lange nicht wahrnehmen wollte. Und ich finde, dass es nichts Wichtigeres gibt als das Vermögen, sich und seine Überzeugungen zu revidieren. Ich gebe zu, dass ich im Laufe der Jahrzehnte immer wieder dazu veranlasst wurde. Vorlieben können in Hass und Ekel umschlagen, und der lange Widerstand kann, wie Diamanten, die mit Diamantstaub bearbeitet werden, eine beglückende Form annehmen. Nicht nur in der Verwendung des Kaputten und der widrigen Substanzen, sondern auch im Spiel mit Möglichkeiten, welche Beuys bei zahlreichen Auftritten einsetzte, stieß ich auf Ähnlichkeiten mit Beckett. Murphy steht bei Beckett für den Beginn der Angst, eine Variante zu übersehen. Wie ein Computer rechnet Beckett alle Möglichkeiten durch und kommt dabei zur beseligenden Feststellung, dass er hundertzwanzig Möglichkeiten hat, seinen Keksvorrat zu konsumieren. Beuys mit seiner berühmten Jacke, die zahlreiche Taschen wie Geheimfächer zierten, erschien mir als Allegorie dieser gigantischen Kombinatorik. Als Irritationsfigur suchte er weltweit seinesgleichen. Das Rätsel, das bleibt, liegt darin, dass der unverständlichen sozialen Euphorie, die er verbreitete, in seinem Werk die unerlöste Melancholie eines Ekstatikers am Abgrund antwortet.
Heute wissen wir, dass Bernd und Hilla Becher zu den außerordentlichsten Künstlern der Nachkriegszeit zählen. Als Lehrer haben sie einer ganzen Generation von Fotokünstlern das Objektiv eingestellt. Die chirurgische Gelassenheit, mit der sie Entschwindendes und Bedrohtes registrieren, wurde für Andreas Gursky, Thomas Ruff, Thomas Struth, Candida Höfer, Elger Esser oder Axel Hütte Bedingung jener protokollierenden Sachlichkeit, die heute die Welt fasziniert. Die nähere Bekanntschaft mit Bernd und Hilla Becher machte ich ziemlich spät. Bernd gehörte zu den bescheidensten und unauffälligsten Menschen, die man auf den Fluren der Eiskellerstraße treffen konnte. Zu seiner Ästhetik, die sich dem Verschwundenen und Verschwindenden zuwandte, gehörten auch der eigene unauffällige Habitus, die ewig graue Hose und das blaue Hemd. Fotografie hatte an der Kunstakademie keinen hohen Stellenwert. Das ist noch ein Euphemismus. Für Kricke war dies Mechanik, und bei Lüpertz fand das, was im Umkreis des Ehepaars Becher erreicht worden war, überhaupt keine Gnade. Er vernachlässigte ihren Beitrag, weil er in ihm nicht mehr als einen Teil jener gefährlichen Medienwelt sehen konnte, die seine Kunst bedrohte. Es war so auch nicht verwunderlich, dass er als Rektor der Akademie nicht zur Trauerfeier für Bernd Becher erschien, zu der der Ministerpräsident eingeladen hatte. Das, was die Fotoklasse betrieb, gehörte für ihn an eine Kunstgewerbeschule. Aus diesem Grunde verließ auch Thomas Ruff, der mit Begeisterung und Engagement die Nachfolge von Bernd Becher angetreten hatte, einigermaßen degoutiert von dieser Einstellung, ziemlich rasch wieder das Haus. Um den großen Andrang in seine Klasse zu bewältigen, hätte er einen Assistenten gebraucht. Dieser wurde ihm aber verweigert. Erst Lüpertz’ Nachfolger Tony Cragg war sich bewusst, was diese Abteilung für das Ansehen der Akademie weltweit bedeutete. Dem coolen, erfolgreichen Briten gelang es schließlich, Andreas Gursky zu überzeugen, einen Lehrstuhl zu übernehmen. Dabei wurde der Begriff »Fotografie« durch »Freie Kunst« ersetzt. Der Gang in die Ateliers und Archive, die Bernd und Hilla Becher in der Alten Schule in Kaiserwerth eingerichtet haben, die Gespräche am riesigen Tisch, auf dem bei jedem Besuch Kaffee und Kuchen warteten, gehören zu dem, was man nicht vergessen will. Immer ging es hier um Verschwinden und um die Erinnerung an verlorene Orte und Formen. So hat es etwas zutiefst Anrührendes, dass der so sachliche Arbeitsplatz, an dem Bernd und Hilla Becher wie ein siamesisches Zwillingspaar ihrer Passion nachgingen, an eine salische Pfeilerbasilika stößt. Liefert nicht die dreischiffige Suitbertus-Kirche am Kaiserswerther Stiftsplatz das passende Symbol für das, was die beiden Künstler in ihrer beispielhaften Komplementarität suchten, ein Nunc Stans, eine Ewigkeit im Augenblick? In dem spartanischen, wohlgeordneten Haus begegnete der Besucher dem, was die Entdeckungsreise der Fotografen bestimmt: Er stand plötzlich mit dem Rücken zur
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