Mein Glueck
verflossenen, entwerteten Zeit. In Tausenden Aufnahmen haben Bernd und Hilla Becher Zeugen der Industriearchitektur dokumentiert. Das zog mich an, führte es doch wieder zu Diderot zurück, dem es in der Enzyklopädie wie einem Linné oder Buffon um Vollständigkeit ging und der dabei jeden Anspruch auf Hierarchie durch die uniforme Präsentationsweise erstickte. Die Fotos zeigen, wie Installationen der Schwerindustrie, Fördertürme, Kalköfen, Wassertürme, Getreidesilos, Hochöfen, Kohlebunker, Gasbehälter nach und nach verschwinden oder ersetzt werden. Wie in August Sanders Sammelwerk Menschen des 20. Jahrhunderts ging es um Fülle und Typologie. Bei ihrer Arbeit kannten sie keine nationalen Grenzen. Sie zogen gemeinsam in andere Länder, in andere Kontinente, um bei ihrem Sammeln transzendentale Kategorien aufzuspüren, die den Erfindungsgeist der Industrialisierung zu veränderten Formen zwangen. Ein immer gleiches gedämpftes Streulicht lässt die Wassertürme oder Kohlebunker nur leicht hervortreten. Der Blickpunkt wird so gewählt, dass sich das Motiv ruhig in die Bildmitte einschreibt. Von der Arbeitswelt, vom Menschen selbst entdecken wir keine Spur. Es ist eine Welt, die auch eine Neutronenbombe in diesem Zustand übriglassen würde. Man spürt, dass die Suche nach dem Standort und der Umgang mit Belichtungszeit nichts mit der Ermittlung von Aktualität zu tun haben. Die Melancholie der Gespräche, die sich in dieser Welt von gestern verfing, unterstrich, dass die Künstler Bildern hinterherliefen, die nicht mehr der Jetztzeit angehörten. Eigentlich erreichen die abertausend Konstellationen, die in diesem Planetarium von Industrieformen erscheinen, unser Auge mit Verspätung. Sie scheinen von dem Licht längst erloschener Sterne erhellt zu werden.
Joseph Beuys und Werner Spies
Bernd Becher und seine Frau setzten in den Nachkriegsjahren bei dem Verschwindenden ein, bei der chronischen Zerstörung, die sie selbst in allen Lebensbereichen, im Physischen und im Moralischen, erlebt hatten. Die Trauerarbeit verzichtet auf jede Larmoyanz, die sich an das Vergehen des physischen Lebens heften könnte. Aus diesem Grund konnten sie diese Phase, dieses Aufwachen auch ohne jede Sentimentalität schildern. Das Werk projiziert, ohne dass dies die Absicht wäre, eine Tristesse auf die Dinge. Vergessen wir nicht, es ist die Zeit des Nouveau Roman und der Nouvelle Vague, es ist die Zeit, die alles Psychologisieren zensiert. Eine große Ausstellung zeigte diesen stupenden Irrgarten der Formen auch in Paris, Madrid, Hamburg, Berlin und München. In der Präsentation trat das Typologische in den Vordergrund. Man stand vor heroischen Friedhöfen menschlicher Erfindungen: Nie zuvor hatte der Besucher an einem verwirrenderen Totenamt für abgelegte industrielle Formen teilgenommen. Er traf auf Wände voller Verlustanzeigen. Wir kennen eine derartige Entmutigung durch das Labyrinth von Formen nur noch aus den Bilderserien Picassos, in denen, ruhelos, ohne Glauben an eine Teleologie künstlerischen Schaffens und ohne die Suche nach einem definitiven Meisterwerk immer neue Varianten gewagt werden. Dieses Sehen, in dem eine Form auf die andere zurückstrahlt, passt in die Zeit von Op-Art. Sie gehört zum Spiel mit Labilität und Veränderung, das in den Händen eines Josef Albers gleichfalls ein ethisches Ziel verfolgte: Der Relativismus der Variationen sollte gegen Intoleranz agieren und damit die Rechthaberei und Vorspiegelung von gültigen Lösungen abschaffen. Bei den Unterhaltungen mit Bernd und Hilla Becher wurde deutlich, dass die unermüdliche Beschäftigung mit formaler Differenz, die Lust am Umgang mit der Ermüdung von Formen über das Interesse am Seriellen und am Spaß an rein formalen Trippelschritten hinausreichte, zu denen das Inventar immer neuer, nie zur Ruhe kommender Industrieformen führte. Das Paar wusste genau, was es wollte und was für die eigene Arbeit nicht in Frage kam. Zu den Tabus gehörte die Farbe, zu den Tabus gehörte die digitale Bearbeitung von Aufnahmen. Und dazu zählte nicht zuletzt auch der selbstkasteiende Verzicht auf den profitablen monumentalen Abzug. Nach dem Tode Bernds kam ich dann und wann ins Atelier, in dem Hilla weiterhin arbeitet. Sie verwaltet nicht nur einen Fundus, der beiden gehört, sondern sie zieht immer wieder selbst auf Bilderjagd. Wie stark das Bewusstsein für die eigene Arbeit ist, zeigte sich im Pariser Goethe-Institut, in dem ich vor einigen Jahren Hilla Becher
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