Mein Glueck
und Andreas Gursky nach ihrer Gemeinsamkeit und nach ihrer Verschiedenheit befragen konnte. Es war ein mitreißendes Gespräch, in dem über Format, Schwarz-Weiß oder Farbe in der Fotografie klare Antworten fielen.
Hilla und Bernhard Becher, Werner Spies und Bernard Picasso
Die Zeit an der Kunstakademie brachte für mich einen wichtigen Einschnitt. Ich traf nicht nur mit Künstlern wie Karl Otto Götz, Günther Uecker, Gotthard Graubner oder Klaus Rinke zusammen, sondern konnte in den Arbeitsräumen der Studenten ein vielperspektivisches Vorgehen entdecken, das sich jeder Dominanz eines Mediums oder eines Stils widersetzte. Die Vorstellung einer linearen Entwicklung von Kunst verpuffte in dieser zügellosen und unüberschaubaren Aktivität. Die Alleinherrschaft von Informel, Pop, Op oder Neorealismus war in den siebziger Jahren verschwunden.
Die Arbeiten der Studenten zeigten, wie rasch und vif sie auf alles reagierten, wovon sie irgendwoher Kenntnis genommen hatten. Dies führte zu nervösen Sofortreaktionen. Derjenige, der die Ambivalenz von Stilen auf souveräne Weise zum Thema machte, war Gerhard Richter. Ich sah in ihm, seitdem ich Ende der sechziger Jahre in der FAZ auf »Ema«, das auf der Biennale junger Kunst in Paris ausgestellt war, hingewiesen habe, den prädestinierten Künstler der Zeit nach Duchamp. Er malte das Bild 1966 , zwei Jahre vor dem Tode Duchamps, ganz offensichtlich als Kommentar zu »Akt eine Treppe hinabsteigend«. Ich sagte Richter, dass er damit eines der intelligentesten und eines der »möglichsten« Bilder der Zeit geliefert hatte. Später meinte er einmal, als wir über Duchamp redeten: »Duchamp, der war ein großes, rätselhaftes, heiliges Etwas.« Das war ein unerwartetes Bekenntnis aus dem Munde eines Mannes, der in der Regel überaus kühl wirkte. Und es erscheint mir deshalb aus der Rückschau als gelenkter Zufall, dass bei der Eröffnung des Centre Pompidou gleichzeitig eine Retrospektive Marcel Duchamp, für die Jean Clair verantwortlich zeichnete, und eine Ausstellung mit Bildern von Richter zu sehen war. Damals war es noch nicht auszumachen, dass Richter zu den Künstlern gehörte, die eine Arbeitsstrategie heranzogen, die gleichzeitig Skepsis und Überzeugung, Ungläubigkeit und romantische Stimmung zum Ausdruck bringen konnte. Ich erzählte Richter von meiner Zugfahrt mit Duchamp nach Rouen. Der Leib, der wie in einem Shaker hin und her geworfen wird, das Verrutschende, das in Duchamps »Jeune homme triste dans un train« zum Thema einer destabilisierten Zeit wird, bringen das zum Ausdruck, was Richter zu einem doppeldeutigen Künstler macht: das Hin und Her zwischen imaginierter und konkreter Welt. Er vermochte daraus eine Cosa mentale und eine fleischliche Sache zu machen. Richter entlehnt seine Sujets der Welt des Reproduzierten, die er in seinem Bilderatlas sammelt. Es geht um Erkundung, um lückenloses Inventar von Welt und Emotion, alles ist nachweisbar wie in einer Enzyklopädie. Die Wiederholung zahlreicher ähnlicher Fotografien und Reproduktionen im »Atlas« entzieht dem einzelnen Sujet die Einzigartigkeit, entrealisiert es. Eine Art mathematische Exaltation führt zum Glück, das die Vollständigkeit der Serie braucht. Die letzten Dinge scheinen die zu sein, die in der Serie am Anfang oder am Ende stehen.
Man könnte sagen, Richter müsse sich, bevor er ein Bild malt, zunächst eine Indifferenz schaffen. Doch die »ontologie sauvage«, »wilde Ontologie« (Foucault), die er bei dem Einsammeln von Dokumenten betreibt, ordnet sich anschließend dem wählerischen Zugriff an der Staffelei unter. Der ständige Rückzug auf die Realität, auf die Fotografien seines »Atlas« zeigt eine verblüffende Verankerung in dem, was ich den »ikonographischen Imperativ der Deutschen« genannt habe. Welche andere Nation hat im zwanzigsten Jahrhundert häufiger politische und soziale Themen aufgegriffen? Das gilt während der Weimarer Republik für Grosz, Dix, Schlichter, Hubbuch und viele andere und in der Zeit nach 1945 für Baselitz, Immendorff, Richter, Kiefer und zahlreiche Künstler aus der ehemaligen DDR. Das war eine Revolution. Denn in den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs gab es in der Bundesrepublik eine starke Reaktion gegen Themen, die sich mit der jüngsten Vergangenheit beschäftigten. Die Künstler wagten nicht zurückzublicken – sie fürchteten wie die Töchter Lots zu Salzsäulen zu erstarren. Die offizielle Meinung glaubte, die Schlacht für
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