Mein Glueck
der Merkwürdigkeiten, die Paris noch Napoleon – wie hundert anderes Große – verdankt.«
Jorge Semprún und Werner Spies
Der andere Grund der Überraschung: Warhol stellt Vergänglichkeit, Verschwinden, Tod dar. Zuvor griff er nach dem lieferbaren Standardobjekt, das durch seine Wiederholung wie ein Phantom von Ewigkeit erschien. Vor diesem akuten Zeitbegriff – akut in dem Sinne, wie man von einer akuten Krankheit redet – besaßen für Warhol nostalgische Themen im Werk keine Bedeutung. In seiner letzten Serie taucht etwas auf, was sein Werk bisher zurückwies: die Veränderbarkeit eines Produkts. Mit »Cars« verweist der Künstler auf die Geschichtlichkeit von Produkten und Moden.
Keith Haring, den ich neben Denis Hopper und Robert Longo bei Hans und Stephanie Mayer kennenlernte, war ein rastloser graphischer Wanderer. Im Mittelpunkt des Umgangs mit ihm standen Liebenswürdigkeit, Weltoffenheit und, in den letzten Jahren, der Schmerz über das Todesurteil, das Aids über ihn und manche Freunde gesprochen hatte. 1987 notierte er in sein Tagebuch: »Ich lebe jeden Tag, als wäre es der letzte. Ich liebe das Leben.« Vor diesem Hintergrund wirken manche späte Bilder, in denen die Leiber wie Schriftzeichen aufeinanderstoßen, geradezu aztekisch. Man denkt an die Darstellung von grausamen Menschenopfern im mexikanischen Yucatán. Wie in einem Puzzle ist alles mit allem verfugt. Die Formen dringen ineinander ein. Er arbeitet mit einer fortlaufenden Kontur. Ungebremst, gleichmäßig wandert der Stift oder der Pinsel über die Leinwand. Man denkt an das Gewebe der Parzen. Die Zeit spult sich ab. Es geht in diesen Bildern keineswegs nur um Stenogramme der Lust, um Strichmännchen, Babys, Hunde, sondern um Inhalte, die auf zeitgeschichtliche Probleme und Schrecken verweisen. Dies steckt auch hinter seiner Zusammenarbeit mit William Burroughs. Zahlreich sind die Anspielungen auf die Versuchung des heiligen Antonius, auf das Tier der Apokalypse, auf die Öffnung der Siegel, auf das Jüngste Gericht. Der Graphismus Harings, der wie Basquiat, den ich in seinem New Yorker Atelier beobachten konnte und der wie abgestellt neben seinen Bildern stand, viel der Übung auf den New Yorker Straßen, der Straßenkunst, dem Graffiti verdankt, hat in diesem Bereich eines Zeichnens, das ständig mit Geschwindigkeitsüberschreitung spielt, ein kohärentes Werk hervorgebracht. Ich entdeckte Graffitis in Manhattan, und deren Fortsetzung der »écriture automatique« der Surrealisten beschäftigte mich. Die mehr oder weniger anonyme Zunft der Sprayer, die sich an Zügen und Brandmauern austobt, war immer stolz auf ihre Illegalität. Darin unterscheidet sich ihre Aktivität von der der Muralisten um Orozco und Siqueiros, die in Mexiko und in den USA während der zwanziger und dreißiger Jahre ihre Stunde hatten. In einer verwahrlosten Umgebung, die niemanden weiter interessiert, erinnern die Armeen der mit Aerosol und Atemmasken bewaffneten Sprayer auch heute noch an das, was hinter dem Beginn während der siebziger Jahren in New York stand: ein soziales Abdriften in einer Zeit, als die Stadt am Rande des finanziellen Zusammenbruchs stand und über Jahre halb Manhattan in einen Ausnahmezustand zu versetzen vermochte. Erst nachdem die Metropole wieder aus ihrer Lethargie zu erwachen begonnen hatte, setzte der Kampf gegen die Krakeleien ein. Der Aufenthalt auf der Straße, in der Szene führte dazu, dass sich diese Künstler von Anfang an ihrer sozialen Rolle bewusst waren. Bei Keith Haring stößt man vorwiegend auf weiche Formen, auf Körperliches, auf eine Welt ohne schroffe Silhouetten, ohne Metall. Bei den Graffitis durchbricht im übrigen nur wenig den Einheitsstil. Die wichtigsten Unterscheidungen betreffen die Schriftarten. Der »Bubble Style« arbeitet Buchstaben ein, die à la Dalí verfließen. Dem teigigen, weichen »Marshmallow« antworten härtere Schriften in Fraktur oder mit dem »Wild Style« Lettern, die ganze Waggons von Vorortzügen in einen futuristischen Taumel versetzen. Von einem weichen, gewissermaßen entbeinten Kubismus kann man bei Keith Haring sprechen. Manches bei ihm lässt an die lustvolle Fertigkeit eines Bill Copley denken, der alles einem schmeichelnden, federnden Umriss überantwortete und, wie Keith Haring, Formen und Menschen sexuell verschraubte.
Mit Überraschung entdeckte ich bei Beuys, als er mich bei Besuchen am Grabbe-Platz auf Beckett ansprach, seine profunde Kenntnis von dessen Werk. Die
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