Mein Glueck
in London, im »Ritz-Carlton«, tatsächlich Chaplin begegnete. Wie um Bergson recht zu geben, trug er ein Bein im Gips. Ich erinnerte mich daran, als ich einen kleinen Film über den Cartoonisten Bosc drehen durfte. Er hatte damals einen Fuß gebrochen. Mit einer Szene, die zeigte, wie der spindeldürre Karikaturist auf einem Bein im Gang hüpfte, von einem Zimmer ins andere sprang, wieder auftauchte, setzte der kurze Film, den Loriot ankündigte, ein. Wir fuhren zusammen auch zur Fondation Maeght in Saint-Paul-de-Vence. Wir filmten ihn, wie er zwischen den großen Giacometti-Skulpturen auf der Terrasse hin und her ging. Er wirkte zwischen Giacomettis »Schreitenden« wie ein aufgeregtes Insekt. Noch nie zuvor war es mir so klar geworden, warum Giacometti seine männlichen Figuren in ständiger Bewegung zeigte, während seine Frauen starr, wie in sich selbst blockiert, Widerstand leisteten. Der ganze Leib, der ganze Umgang mit der Welt wurde bei Bosc zum Lapsus. Doch über solche konkreten Beziehungen hinaus rückte für mich der stotternde Körper, den Bergson in seiner Schrift schildert und erklärt, in die Nähe der Maschinenphantastik, die Dada von der fabelhaft outrierten, mechanistischen Anthropologie der Aufklärung übernommen hatte. Die Brücke, die sich von La Mettries L’homme machine zu Picabia, Duchamp oder Max Ernst schlagen lässt, wurde von Bergson abgestützt. Als ich Peter Handke, der damals in der Nähe wohnte, diesen heimlichen sentimentalen Kult der Erinnerung beichtete, meinte er, auch er sei von diesem Ort angezogen worden.
Die Wochenenden oder die Sonntage, die wir immer wieder bei Kahnweiler auf dem Land in der Nähe von Chalo-Saint-Mars verbringen durften, gehörten mit ihren Diskussionen und Begegnungen zu den größten Glücksversprechungen. Bis zu seinem achtzigsten Geburtstag holte uns der Gastgeber selbst in seinem Mercedes am Bahnhof in Etampes ab. Doch von diesem Tag an setzte er sich nicht mehr ans Steuer. Alles war aufs genaueste geordnet, die Parzellen des Nutzgartens und, näher am Haus, die Rabatte im Blumengarten blieben säuberlich getrennt. Von oben ging der Blick auf ein leicht in die Landschaft eingeschnittenes Tal und eine majestätische, von Pappeln bestandene Allee. Wir glaubten uns auf einer Landpartie. Alles lebte in meinen Augen vom schwermütigen zeitlosen Zauber, in dem Jean Renoir seine »Partie de campagne« schweben ließ. Zu diesem Eindruck trug nicht zuletzt Sylvia Bataille bei, die Schwester von Rose, André Massons Frau, der im Film der Part der verführerischen Henriette zugefallen war, die regelmäßig Gast im Landhaus in Saint-Hilaire war. Manchmal kam sie auch mit ihrem Mann Jacques Lacan.
Die Schilderungen Kahnweilers rissen mich mit. Sie sorgten über Jahre in unseren zumeist wöchentlichen Unterhaltungen für die Rekapitulation eines abgeschlossenen, erinnerten Lebens. In Paris und in Saint-Hilaire gab es spannende Tischgespräche, keinen Smalltalk. Dafür sorgte Kahnweiler. Er erklärte aufs genaueste graphische Techniken, verschiedene Gussverfahren, tauchte in die Kunstgeschichte ein. Von Geld, Anlagen oder Wertsteigerungen war nie die Rede. Nur davon, dass ein Kunsthändler stets dazu bereit sein müsste, ein Werk, das er verkauft hat, zum selben Preis wieder zurückzunehmen. Doch im Mittelpunkt stand der Kubismus, in immer neuen Variationen vertiefte er die unerklärliche Genese dieser für ihn so herausfordernden, mentalen Kunst. Sein Credo fasste er in den Satz, dass die Vorstellungskraft des schöpferischen Menschen den positivistischen Glauben an die Realität der Außenwelt in Frage stellen, ja zerstören müsse. Dabei bezog er sich mit Vorliebe auf Mallarmé. Er erklärte, dass dessen Beschwörungskraft nicht in den symbolischen Darstellungen der Sérusier oder Denis ihre Entsprechung gefunden hatte, sondern in der anspielungsreichen, mit Suggestion und Verwirrung arbeitenden Bildarchitektur der Kubisten. Und ich hatte stets das Gefühl, dass dieses Erzählen, dem ich süchtig folgte, Kahnweiler selbst glücklich machte und irgendwie jung und frisch erhielt. Dazu zeigte er mir Briefe Picassos, Braques und Klees, die aus der frühen Zeit stammten. Ich wusste, dass er in den dreißiger Jahren zahlreiche Unterhaltungen mit Picasso niedergeschrieben hatte. Zu einigen hatte ich Zugang. Eines Tages schlug er vor, ich sollte doch diese Manuskripte bearbeiten und herausgeben. Doch nach dem Tode Kahnweilers meinte Louise Leiris, es sei jetzt noch
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