Mein Glueck
nicht möglich, diese Texte zu veröffentlichen, weil sie zu viele intime und diskreditierende Bemerkungen enthielten. Die Darstellung vom ersten Zusammentreffen mit Picasso, die er regelmäßig in höchster Ergriffenheit vortrug, konnte ich nicht oft genug hören. Immer neue Nuancen spürte ich dabei auf. Der Bericht wurde für mich nach und nach zur Erzählung aller Erzählungen. Es waren weit mehr als die Informationen, weit mehr als die kunsthistorischen Details, die sich dabei eingeprägt hatten. Die Schilderung Kahnweilers, der eigentlich ein eher emotionsloser und, was die eigene Befindlichkeit betraf, scheuer Mensch war, erschien mir als die Offenbarung eines ungeheuerlichen Ereignisses, das diesen rationalen Mann irgendwie aus dem Gleis geworfen hatte. Es war eine Entdeckung, die er völlig in Besitz genommen hatte, und er stellte sie so plastisch dar, dass jeder das stolze, besitzanzeigende Wort vom Einzigen und seinem Eigentum assoziieren musste.
Die Hoffnung auf eine Epiphanie, auf einen Überfall durch das, was sich nicht planen lässt, ließ mich nicht mehr los. Sie zeigte sich bald in der Leidenschaft für Baudelaire und in der Mimese des Flaneurs, der nichts Präzises sucht, sondern den seine Erwartung und Hoffnung, auf Unerwartetes zu stoßen, auf die Straße treibt. Dort wollte er sich völlig passiv von Begegnungen überfallen lassen. Bald spürte ich, wie die Stadt und die Menschen, die sich auf den Straßen drängten, sich neben meiner Obsession durch die Natur Platz zu schaffen begannen. Irgendwie gewann ich den Eindruck, dass das Phantasma Paris das zu ersetzen vermochte, was für die Nachbarn jenseits des Rheins die Loreley bedeutete. Ich legte es geradezu darauf an, vom Zufall ausgeraubt zu werden, hoffte, das stereotype Sehen und Erleben endlich zu verlieren. Es ging dabei um so etwas wie die Profanierung der Gnade, deren Unberechenbarkeit sich in mein vorausgegangenes Leben eingebrannt hatte. Ich glaubte an den Umsturz des Gewöhnlichen, erwartete etwas, was auf einen Schlag das Leben zu verändern vermöge. Und was konnte ich für mich mehr wünschen als solche Begegnungen, die Kahnweilers Leben so überreich skandierten? Als ich schließlich das erste Mal zu Picasso nach Mougins kommen durfte, blieb meine fiebrige Erwartung in den Geleisen, die Kahnweiler sechzig Jahre früher für den Weg zum Jahrhundertgenie verlegt hatte.
In vielen Träumen hatte ich diesen Besuch in allen Einzelheiten vorbereitet. 1907 , im Bateau Lavoir, stand der junge deutsche Jude, über den die Pariser Kollegen eben noch gespottet hatten, er habe zur Erstkommunion von seinen Eltern eine Galerie in der Rue Vignon zum Geschenk bekommen, vor einem Bild, für das Begriffe wie Kennerschaft oder Verstehen sich als wertlos erwiesen. »Les Demoiselles d’Avignon« – die wenigen, die die große Leinwand zuvor gesehen hatten, verbreiteten überall in Paris die Meldung, der Maler aus Spanien habe Petroleum gesoffen und er werde Feuer speien. Andere behaupteten, er werde sich nächstens aus Verzweiflung hinter diesem Bild aufhängen. Alle, auch Vollard, hatten sich von Picasso losgesagt. Kahnweilers klinischer Bericht von einem privilegierten, aber schließlich in seiner Abruptheit erschreckenden Erlebnis wurde zur Obsession, die mich Tag und Nacht verfolgte. Ein Traum hat sich besonders eingeprägt. Ich hatte Werner Hofmann gegenüber 1966 im Gespräch nach dem Besuch der Picasso-Retrospektive erwähnt, dass meines Erachtens von Ingres’ »Bain turc« ein direkter Weg zu den »Demoiselles d’Avignon« führe. Bilder wie das rosafarbene »Le Harem«, die kurz zuvor entstanden waren, Hunderte Skizzen zeigten, dass Picasso einen neuen Kanon suchte. Dazu hatte ich den Nachweis erbracht, dass Picasso wenige Monate zuvor Ingres’ »Bain Turc«, diese Enzyklopädie des Nackten, die damals noch in einer Privatsammlung verborgen war, auf dem Salon d’Automne in Paris sehen konnte. Bei Ingres und bei Picasso geht es um die Unersättlichkeit des Auges. »Le Bain turc« sammelt alle nur denkbaren Arabesken der Begierde ein, aber es versenkt zugleich den Musterkatalog »schöner Stellen« in eine unübersehbare Melancholie, in die diese Unersättlichkeit den Betrachter fallen lässt.
Paul Claudel hat im trügerischen, nimmersatten Versprechen des Tondos eine Vanitas gesehen – er nannte die Anhäufung heller Körper, die in der Bild-Schale wie in einer besitzgierigen Iris aufblitzen, einen »Madenfladen«. Auch Picassos Bild
Weitere Kostenlose Bücher