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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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respektierten sie auch überaus strikt die Liturgien der Arbeitskämpfe. So gehörte es sich selbstverständlich, dem Chauffeur während der Fahrt in den Süden die Gelegenheit zum Demonstrieren zu geben. Der Mercedes hielt an, der Motor wurde abgestellt, und Fahrer und Gäste streikten am Straßenrand. Diese ebenso absurde wie komische Partizipation geschah ohne alle Herablassung und in der festen Überzeugung, er und die anderen hätten Solidarität gezeigt und getan, was zu tun gewesen war.
    Michel Leiris ertrug solche Maskeraden ohne ein äußerliches Zeichen des Widerwillens. Er scherzte so gut wie nie und lachte wenig. Das Physiologische seiner Erscheinung rückte unübersehbar in den Vordergrund. Auch in seinen Büchern hielt er sich vorwiegend auf der Schwelle zum Leib auf. Schon auf den ersten Seiten seines Lebensberichts L’âge d’homme geht es dem Autor um die Anatomie eines tiefsitzenden Selbstekels, um Selbstverstümmelung durch Beichte und Selbstbezichtigung. Dies alles kulminierte im zufälligen Blick in den Spiegel, aus dem ihn, wie er meinte, eine erniedrigende Hässlichkeit anstarre. Nur manchmal, wenn er sich völlig entspannte, verflog diese unangenehme Vorstellung, die das Zusammensein mit ihm penibel erscheinen ließ. Dann konnte er durchaus einmal mit seiner Silhouette für eine Sekunde an Humphrey Bogart denken lassen. Zu diesem selbstkritischen Urteil zwang ihn sein Aussehen, dem ein Touch von Neugeborenem mit übergroßem Kopf anhing, die Art, sich die Handkante blutig zu beißen, die gewöhnlich entzündeten Augenlider und nicht zuletzt das, was ihn, wie er schrieb, in seinen eigenen Augen so verächtlich machte, die Manie, sich regelmäßig am Anus zu kratzen. Fast ununterbrochen runzelte er die Stirn, aus der beängstigend angespannt die Schläfen hervortraten. Ich hatte den Eindruck, alles an seinem Körper sei beengt, als verfüge dieser nicht über genügend Haut, um sich bequem von der Umwelt abzugrenzen. Niemand hat dies in seinen Porträts besser getroffen als Francis Bacon, mit dem Leiris gerne und Kahnweiler eher mit höflicher Distanz Umgang pflegte. Bacon porträtiert seinen Freund als gallertartige Messerschmidt-Fratze, die sich nach allen Seiten ziehen lässt. Der Kopf diente dem Maler als Punchingball. Man kann sie mit den Skulpturen von Thomas Schütte vergleichen, in denen Gesichter und Körper auf brutale Weise zusammengeschlagen werden. Nicht von ungefähr lässt sein Gesicht auf den Bildern an die birnenförmigen, malträtierten Ledersäcke denken, die in Turnhallen von der Decke hängen und nach Schweiß riechen.
    Bacon unterstrich das Zähflüssige, Viskose des Gesichts. Wie Dellen, die sich in Kautschuk drücken lassen und die immer wieder zurückspringen, wirken Stirn, Nase, Mund und Kinn. Das Resultat bleibt an der Schwelle von Fleischerladen und Morgue. Es entsteht der Eindruck, der Porträtierte gleite auf dem eigenen Fleisch aus und hinterlasse dabei eine Schleifspur seiner Vergänglichkeit. Ich selbst mochte den Manierismus Bacons nie. Mir kam es so vor, als stünde ich vor Figuren, die auf Hundedreck ausrutschten. Die Verunstaltung assoziiert Gewalt, Freaks, biologische Havarie. Immer wieder denkt man an Sideshow, an Lynchs verwirrenden »Elephant Man«, der das viktorianische England dazu animierte, den Ekel vor dem Physiologischen als moralische Liturgie, als gesellschaftliche Mutprobe zu zelebrieren.
    All dies führt in die Nähe der physiologischen Details, denen Leiris in seinen Beschreibungen mit Vorliebe auflauert. So wie bei Bacon den Betrachter aus der Fremde, aus dem Blickwinkel de profundis die bedrängenden Larventräume anspringen, so bedrängt uns Leiris mit den Anblicken des Verlieses, in das er sich mit seinen Komplexen und Heimlichkeiten eingesperrt hat. Vieles, was in den abgründigen Büchern erscheint, führt zu Georges Bataille und dessen Sakralisierung des Widerlichen. In dem abtrünnigen, gegen André Breton gerichteten Text »Le bas matérialisme et la gnose« schrieb sich der Autor bei Schilderungen von Verletzungen und Blut fest. Dies fiel in die Zeit, da Leiris zusammen mit Bataille und Carl Einstein die Zeitschrift Documents herausgab. Im Umspannwerk des Surrealismus wurden dabei Energien des Tabuierten gebündelt, von denen auch Sartre, Genet, Nathalie Sarraute zehren konnten. In einem fort treffen wir auf Beobachtungen, die mit ethnologischer Präzision und Härte gegen sich selbst vorgehen, sich als Präparat begreifen und

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