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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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dieses untersuchen und vermessen. Cranach, die unheimliche winzige Wunde der Lukrezia, der besessene, panerotische Fetischismus, der sich in Details einfrisst, all dies charakterisiert diesen Stil. Und diese Mischung aus somatischen Angaben und der Flucht aus diesen in eine idealistische Überhöhung macht die Bücher so unvergleichlich. Unentwegt kommt es bei der Feldforschung zu Assoziationen, die bestürzen. Von der Verwundung der Lukrezia werden wir zu Parsifal durchgewinkt, zum leidenden Amfortas, zu Kundry und zur unheilbaren sexuellen Blessur par excellence. Nur ein Ethnologe scheint zu einer solch freien und unbarmherzigen Sicht zu finden, die das Psychologische hinter den Ansturm der Dinge und deren genauem Inventar zu verstecken vermag. Es ist eine Art von Schreiben, das auch Claude Lévi-Strauss in den Traurigen Tropen , der anderen Saga hilfloser, gewollter Verlorenheit im Fremden, herangezogen hat. Nichts zeigt dies besser als die Sicht von Michel Leiris auf Picasso, in der der schöpferische Prozess mit der tödlichen Liturgie in der Arena gleichgesetzt wird. Denn allein das drohende messerscharf gewetzte Horn des Stiers könne als Symbol für das Risiko herhalten, das Picasso zeitlebens von der Negation eines Werks zugunsten eines anderen trieb. Und diese Selbstgefährdung bleibt für Leiris, wie er 1946 in De la littérature considérée comme une tauromachie ( Tauromachien ) zusammenfasst, die einzige Garantie für die Bedeutung von Schreiben und Literatur.

    Ich suchte und fand im Umgang mit alten Menschen ein Glück der Erinnerung, das nicht auf die Jetztzeit angewiesen sein wollte. Deshalb zogen mich von früh auf diejenigen an, die etwas erlebt hatten, die eben noch für eine gewisse Zeit damit beschäftigt waren, aus unaufschiebbarer Rückschau zu leben. Die Wohnungen und Häuser, in denen ich mit ihnen verkehrte, haben heute nichts mehr mit ihnen zu tun. Sie zeigen, wie fragil und auswechselbar das Fleisch ist, das sich nur auf Zeit der Architektur, der Objekte bedienen kann. Einmal im Landhaus in Saint-Hilaire, das eine Betonskulptur von Picasso, ein immenser Weibsengel neben den Überresten einer romanischen Kapelle, mit drei Fenstern in der Apsis, bewachte, saßen Kahnweiler und seine uralten Verwandten zusammen. Die Arbeit aus Beton, mit Betongravüre von dem Norweger Carl Nesjar, gehörte sicherlich zu den gelungensten Beispielen einer Monumentalskulptur, die nach Skizzen Picassos gefertigt worden waren. Der Künstler hatte dafür mit Maquetten aus festem Karton experimentiert. Diesen konnte er falten und auf diese Weise völlig neue, aus Flächen bestehende Volumen schaffen. Nach diesen wurden dann zunächst Modelle aus Metall gefertigt, ehe sie von Nesjar in einem neuen Verfahren, das Kiesel und Beton mischte, in groß ausgeführt wurden. Im Esszimmer in Saint-Hilaire strahlte ein Wandgemälde, ein farbenfrohes Fresko, das Fernand Léger für diesen Platz geschaffen hatte. Und Sonia, die Witwe von George Orwell, die gleichfalls zu den Habitués gehörte, rechnete bei Tisch – es war Ende der siebziger Jahre – vor, Kahnweiler, Michel, seine Frau und die zwei Schwägerinnen brächten es zusammengerechnet auf über vierhundert Jahre. Welch ein sonderbares Memento mori, in einer idyllischen, fabelhaft organisierten Umgebung, die doch nichts anderes als Geborgenheit zu verkündigen schien. Widersprach dies nicht meiner Vorstellung von der Ewigkeit des Glücks der Bourgeoisie, das ich in Paris, in den westlichen Quartiers so stark und unnahbar präsent fühlte? Wie oft durchwanderte ich diese Boulevards, mit Vorliebe abends, suchte mit sehnsüchtigen Augen in die herrlichen, uneinnehmbaren Wohnungen einzudringen, die mit unzähligen Lampen, Polstern, Bildern, Spiegeln und Buchwänden auf den Asphalt strahlten. Es gab für mich keine stärkere Möglichkeit, Fremdheit zu spüren, als mich der Illusion eines bürgerlichen Lebens auszusetzen. Dort, in der Nähe des Bois de Boulogne, wo die Impressionisten in ihren Bildern dem verschwindenden Blick nachjagten, ging mir dies auf. Nicht zuletzt dachte ich an Edgar Degas. Denn kein anderer Maler hat das Glücksversprechen der Impressionisten stärker misshandelt. Er trat immer wieder in die finstere Seite der bürgerlichen Welt ein. Das Spiel mit dem Ausschnitt, ein kupiertes Sehen produzierte dunkle, gefährliche Ecken. Die Zeitgenossen ahnten dies und wussten, dass sich hinter dem Gespinst aus Tüll und Unschuld der »Vierzehnjährigen

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