Mein Glueck
denn ich kann kaum eine Spur davon in mir entdecken; ein so erstaunlicher Gedächtnismangel existiert sicher nicht ein zweites Mal in der Welt. In allem Übrigen bin ich durchschnittlich und gewöhnlich, aber auf diesem Gebiet bin ich, glaube ich, etwas Besonderes und ganz Seltenes …« Vielleicht ist es wichtig, dass der Zufall, das unfreiwillige Gedächtnis allein einem derart mitspielen kann.
Ich kam in der Universitätsstadt Tübingen am Neckar zwischen Schwäbischer Alb und Schwarzwald zur Welt, an einem 1. April, und wuchs in dem nahen Rottenburg auf. Ein Aprilscherz zu sein hat mir immer wieder das Leben erleichtert. Dieses irritierende, ja für viele unglaubhafte Datum, das ich stolz mit Gogol und Bismarck teile, erlaubte es mir, in der Schwebe zwischen Ernst und Witz zu bleiben. Erst viel später erfuhr ich, dass der 1. April von der katholischen Kirche auch als Geburtstag von Judas angesehen wird. So gut wie niemand fragte mich in Paris zu Beginn nach meiner deutschen Herkunft. Ich war damals viel zu naiv und zu jung, für mich war der Krieg allenfalls am Rande präsent, aber was der Krieg bedeutete für das Verhältnis zwischen Deutschland und Europa, dessen war ich mir gar nicht bewusst. Im Umgang mit Claude Mauriac, dem Sohn von François Mauriac, der mir 1963 ein Stück für den Süddeutschen Rundfunk, »La conversation«, geschrieben hatte, spürte ich anfangs eine gewisse Scheu. Mauriac interessierte mich sehr, weil er das Wort von Valéry, niemand könne mehr einen Roman mit dem Satz »La Marquise sortit à cinq heures« beginnen lassen, zum Titel eines Romans gemacht hatte und sich auf diese Weise der Kritik am auktorialen Erzählen, das die Autoren des Nouveau Roman herausforderte, anschloss. Bei Besuchen in seiner Wohnung am Quai de Béthune auf der Île Saint-Louis erzählte er mir von der Zeit, da er de Gaulle als Sekretär gedient hatte. Dabei spürte ich, dass er und seine reizende Frau Marie-Claude, eine Großnichte von Marcel Proust, nicht mehr den Argwohn teilten, mit dem sein Vater zeitlebens Deutschland begegnete. So gut wie keiner kommentierte in den Kreisen, in denen ich verkehrte, meine Herkunft, keiner ging mir aus dem Weg. Allenfalls der Philosoph Vladimir Jankélévitch, zu dessen Hörern ich an der Sorbonne zählte, zeigte mir gegenüber so etwas wie Verachtung. Ich spürte bei ihm eine prinzipielle, ja hasserfüllte Ablehnung deutsch-österreichischer Kultur. Und diese bezog sogar die Musik mit ein. Außer Liszt, Fauré und Debussy ließ er nach dem Ende des Nationalsozialismus nichts mehr gelten. Jankélévitch wiederum, der seine Dissertation einst der Spätphilosophie Schellings gewidmet und dessen Vater Freud ins Französische übertragen hatte, ordnete an, dass seine Schriften auf keinen Fall mehr auf Deutsch erscheinen dürften. Nachdem das Ausmaß und die Technik der Vernichtung in den Konzentrationslagern bekannt geworden waren, konnte er keine deutschen Partituren oder Bücher mehr öffnen. Er sagte mir, das, was im Namen der Deutschen den Juden angetan worden sei, würde jede Vorstellung von Versöhnung für immer ausschließen. Damals wehrte ich mich mit Händen und Füßen gegen eine solche ewige Verdammung. Heute bin ich sicher, dass er das Recht hatte, den Deutschen ein metaphysisches Übel zu überlassen, aus dem es keine Erlösung geben kann. Das, was mich bedrängte, fand Ausdruck im Titel des ersten Romans von Robbe-Grillet. Er heißt Les Gommes ( Die Radiergummis ). Und in der Tat, in den fünfziger und sechziger Jahren hatten viele das Bedürfnis, »Radiergummis« anzusetzen. Als Deutscher fühle ich mich indes heute, was die Belastung durch die Geschichte angeht, wesentlich unwohler als damals. Dass es nicht nur Hitler und wenige andere waren, hinter denen man sich bequem verstecken konnte, sondern dass ohne die Mitwirkung eines großen Teils der Bevölkerung nicht möglich gewesen wäre, was geschehen ist, ist ja eine eher neuere Erkenntnis. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Menschen, die diese Erinnerungen in sich tragen, auch jene der zweiten oder dritten Generation, ein normales Verhältnis zu den Deutschen finden. Dazu kam, was einen im Ausland ständig beunruhigen musste: Es fehlte auf deutscher Seite fast durchgehend die Bitte um Vergebung. Diese wurde rasch durch Trotz, durch Wirtschaftswunder und den Hinweis auf eine perfekte Demokratie ersetzt. Dagegen wurde von den Deutschen andauernd voller Larmoyanz über den Rückstoß, den die
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