Mein Glueck
Freude und mit Stolz ein hübsches, wohlgeordnetes Städtchen, in dem es zahlreiche Winkel gibt, in denen die Zeit zum Stillstand gekommen ist. Die verspätete Einkehr des Wirtschaftswunders hatte dafür gesorgt, dass zum Glück nicht zu viel abgerissen oder renoviert worden war. Das Stadtbild, das sich in der Nachkriegszeit kaum geändert hat, dominierte das bischöfliche Ordinariat, ein mächtiger, weißer, zweischenkliger Renaissancebau, bei dem demonstrativ auf alles, was nach Prunk und Dekor aussehen könnte, verzichtet worden war. Nur der prächtige spätgotische Brunnen auf dem Marktplatz und das barocke Rathaus bilden bezüglich dieser Genügsamkeit eine Ausnahme. Der Dom von Rottenburg selbst, die Kathedralkirche der Diözese, blieb, wenn man ihre helle, sparsam mit Stein eingefasste Fassade betrachtete oder den dreischiffigen Raum betrat, ein peinliches, beschämendes Muster an Schlichtheit. Etwas Haushälterisches, das zum Charakter der Bewohner der Kleinstadt passte, sprach sich in diesem Bau aus. Allein der filigrane spätgotische Turm vermochte uns mit Stolz zu erfüllen. Er wird von Maßwerkeinsätzen durchbrochen, und die Spitze bekrönt eine riesige doppelte Kreuzblume. Aus der Höhe von fast sechzig Metern ließen sich Städtchen und Umgebung in Besitz nehmen. Die Fernsicht reichte über Muschelkalkfelsen, Steinbrüche, das glitzernde Band des Neckars, zu den Hopfenstangenhäuschen, zur Weilerburg und jenseits des Walds zu den Bergen der Schwäbischen Alb. Dort, wo der Aussichtsturm der Weilerburg steht, erhob sich früher die Burg der Grafen von Hohenberg, auf der Hartmann von Aue, der Verfasser von Der arme Heinrich , seine Minnelieder gesungen haben soll. Wie glücklich waren wir, von dort oben an Karfreitag und Karsamstag, da die Glocken zu schweigen hatten, mit unseren ratternden Grätschen aus Holz zum Gebet aufzurufen. Wir waren stolz, im Religionsunterricht zu hören, dass die Eleganz dieses Turms allenfalls in Rottweil, Freiburg und Straßburg und dem Osten zu in Ulm noch einmal eine Steigerung erreiche. Diese Erinnerungen fallen in die Zeit, in der es neben dem Turm und neben der Neckarlandschaft für mich noch so gut wie nichts anderes gab. Hier verlief die Grenze meiner Welt. Und diese Welt kam mir wunderbar und riesengroß vor, so gewaltig weit, dass die Felder, die umliegenden Dörfer und Wälder in der Ferne in einem Blau verschwanden, hinter dem in meiner Vorstellung nichts Konkretes mehr verborgen sein konnte. Diese Sucht nach einer Landschaft, die verdämmerte und sich dem Auge entzog, blieb für Jahre mein tiefstes Erlebnis. Es wurde zu einer Art von metaphysischer Begegnung, die mir alle Tore zur Flucht in die Welt der Vorstellung öffnete. Bis zum ersten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts soll es in Rottenburg ein Schloss gegeben haben. Der Staat hatte es requiriert und daraus ein Zuchthaus gemacht. Es lag leicht über der Stadt an der Stelle, an der in der Römerzeit der Tempel und das Kapitol von Sumelocenna standen. Irgendwie wurde diese Anziehung, die verlorene und verdeckte Dinge auf mich ausübten, unerlässlich. Sie zogen mich an wie die Römersäule, ein Säulenpaar, das an der Porta Suevica, wo der Neckar das enge Muschelkalkgestein durchbricht, ausgegraben und im späten neunzehnten Jahrhundert nahe der Fundstelle an einem Waldweg hoch über dem Städtchen aufgerichtet worden war. Mit dem Sohn des Gefängnisdirektors hatte ich mich in der Schule angefreundet. Auf diese Weise vermochte ich dann und wann in jene unheimliche, anziehende Welt vorzudringen, um hinter den hohen Mauern die vergitterten Gebäude zu entdecken, die sich letztlich kaum von den Schulhäusern unten in der Stadt unterschieden. Das fleischfressende Rot der Ziegel dominierte auch innerhalb der Mauern. Das Wissen, dass dort der Raubmörder Richard Schuh aus dem benachbarten Remmingsheim eingesessen hatte, für den am 18. Februar 1949 das letzte Mal vor der Abschaffung der Todesstrafe die Guillotine aus Rastatt herbeigeschafft und montiert wurde, beschäftigte uns auf ungemeine Weise. Viele Strafgefangene, die da oben eingesperrt waren, wurden bei der Feldarbeit eingesetzt, spalteten für die anständigen Bürger das Brennholz. Bei uns Kindern verursachte diese gewinnbringende Integration der Männer in den gestreiften Anstaltskleidern immer einen leisen Schauer. Eines Tages schlug dieser Schauer in Angst und Gewalt um. Ein Häftling, der geflohen war, hatte sich ins Buschwerk unseres Gartens
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