Mein Glueck
schälen war für mich ein akrobatisches Unternehmen, es verwickelte mich in einen Nahkampf, den die versöhnungsbereiten ehemaligen Gegner belustigt und befriedigt verfolgten. Was mich jedoch vor allem befremdete, war die Tatsache, dass ich erstmals im Leben auf Schale und Kernhaus verzichten musste. Das erschien mir wie ein Verrat an den heimatlichen Apfelbäumen und dem sorgfältig gelagerten Obst, das ich mit meinem Vater in regelmäßigen Abständen mit äußerster Vorsicht, ohne es anzustoßen und zu beschädigen, auf dem hölzernen Lattenrost im Keller wenden musste.
Der Abstand, den ich mit dem Umzug nach Paris zu all meinen Erinnerungen gewann, brachte mich dazu, über meine Herkunft und meine Verschiedenheit nachzudenken. Das waren oft wahre Kleinigkeiten, kaum spürbare Strabismen, die ich aus einem Buch kannte, das mir damals schon als ein Vademecum für unterschwellige, überaus bedeutsame Verschiebungen in die Hände gefallen war: Nathalie Sarrautes kurze Prosa, deren erste Stücke sie noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs unter dem Titel Tropismes ( Tropismen ) veröffentlicht hatte. Es war das entscheidende Buch, das sich, wie ich nach und nach spürte, als Brücke zu dem Flügel des Surrealismus anbot, der das Vanitasmotiv in den Vordergrund rückte. In den fünfziger Jahren wurde diese Nähe noch nicht gesehen. Sartre setzt bei der Sarraute’schen Sprache des Morbiden und Zerfließenden ein, die die inhaltlichen Verschmelzungen nicht auflöst, sondern langsam, provokant mit Doppeldeutigkeit auflädt. Bei Sartre spielt zusätzlich die damalige Präsenz von André Masson eine wichtige Rolle. Der surrealistische Dissident zwang Sartre dazu, sich mit der Bewegung um Breton auseinanderzusetzen, die er sonst strikt ablehnte. Doch Sartres Blasphemie und sein metaphysischer Degout gewinnen erst vor dem Hintergrund von Dalís »Eselkadaver«, Buñuels »L’âge d’or« oder Max Ernsts »Une semaine de bonté« ihre Prägnanz. Wir treffen im übrigen auf diese Faszination gegenüber dem fließenden, sich selbst verdauenden Sprechen Sarrautes auch in dem berühmten Vorwort, das Sartre für Nathalie Sarrautes ersten Roman Portrait d’un inconnu ( Porträt eines Unbekannten ) geschrieben hat. Erkennen wir diese Auseinandersetzung mit dem Surrealismus als entscheidende Voraussetzung für Sartres ästhetischen Ansatz, so tritt manches in einen konkreteren Kontext. Man könnte dann folgern, dass jede sprachliche Kunst, die mit Kruste, mit getrocknetem Blut, mit Schleim oder mit dem unkontrollierbaren Wuchern einer Substanz arbeitet, vor dem Hintergrund des Surrealismus entsteht. Was ich bei Nathalie Sarraute fand, war in seiner Verwendbarkeit für das Pariser Leben allem, was der Existentialismus an Aufmerksamkeit und Stimmung anbot, weit überlegen. Es ging hier nicht um den existentiellen Stich, der in den Kopf eindrang und alles zur Veränderung aufrief. In den Tropismen und in allen anderen Büchern Nathalie Sarrautes hakte die Zeit, versetzte die Zeitlupe alle Begegnungen und Beschreibungen in eine nimmersatte Qual. In diesen Texten fanden sich sachlich verwertbare Beispiele, die helfen sollten, es im Zeitalter des Zweifels, den die Autorin zu schildern begann, überhaupt noch auszuhalten. Nur durch Verkleinerung und Zerstampfen der großen Geschichte und der bedeutenden Ereignisse kamen Beobachtungen zustande, die keinen Heroismus und auch nicht die Ideologie des Absurden brauchten. Vieles, was ich in Paris beobachtete und erlebte, sah ich vor dem Hintergrund der Kleinstadt, der geschlossenen Welt, der Familie, der Umgebung, der ich entstammte. Ich spürte, dass ich dieses frühere Dasein zum Vergleich heranziehen konnte, um das Neue zu erleben. Und ich wusste mit einem Schlag, dass alles wichtig und Ausgangspunkt von Reflexion und Exaltation werden konnte. Das ist der Grund, warum der Nouveau Roman so unendlich wirksam scheinbare Langeweile in Energie umzuspannen vermag.
Vor mir steht der riesige Schrank der Erinnerung, in dem ich regelmäßig eine andere Schublade aufziehen kann, ohne zu wissen, welche Zeit meines Lebens sich darin versteckt hält. Eine Art Mobile des Vergangenen tanzt vor mir. Und ich weiß, dass erst das Zusammenspiel der Teile das Leben zu definieren vermag. Den unsicheren und unsystematischen Umgang mit derartigen bewussten und unbewussten Erinnerungen markiert wohl am besten ein Wort von Montaigne: »Niemand ist so wenig wie ich dazu berechtigt, vom Gedächtnis zu sprechen;
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