Mein Glueck
verwunderter anschauten. Bis schließlich ein Angestellter des Beerdigungsinstituts auf die Bühne trat und bekanntgab, es seien leider unvorhergesehene technische Probleme aufgetreten, die den Ablauf der Zeremonie verzögerten. Es war wie in der Oper, wenn ein Sprecher einen Besetzungswechsel bekanntgeben musste. Zweimal hatten wir diese Bitte um Nachsicht anzuhören, und zweimal erdröhnte jene Szene, in der Boccanegra in Fiescos Haus die tote Geliebte entdeckt. Beim Gang zum Grab, in das die Urne versenkt werden sollte, kam man an einer Ecke vorbei, aus der einen der Pesthauch von Verwesung anfiel. Wie in einer Schwarzbrennerei wurden da unten alte und junge Körper, die sich verflüssigt hatten, von einer Pumpe abgesaugt.
Eine Kindheit in der Provinz
Als ich nach Paris kam und dort vom ersten Tag an in das eintauchte, was ich das andere, in meinen Augen das »richtige« Leben nannte, wurde es beinahe selbstverständlich, alles, was meine Herkunft betraf, zu vergessen oder zu verdrängen. Doch rasch wurde mir klar, dass ich hier nicht völlig dazugehören konnte. Zum Glück, muss ich aus der Rückschau sagen. Die Distanz war das, was mich beunruhigte, schließlich erregte und zur Kritik anspornte. Dies wurde mir spätestens deutlich, als ich von einem neuen, dicklichen Kameraden, den ich bei Veranstaltungen einer christlichen Studentenverbindung kennengelernt hatte, in ein, wie es mir damals schien, riesiges und hochelegantes Appartement am Bois de Vincennes eingeladen wurde. Im Cercle an der Place de la Sorbonne verkehrten, soweit ich es beurteilen konnte, nur gutsituierte Jungen und Mädchen aus der besseren französischen Gesellschaft, die es sich leisten konnten und es als ihre Aufgabe ansahen, mit ausländischen, vor allem auch deutschen Studenten netten Umgang zu pflegen. All dies war behaglich, hatte jedoch auch einen Anflug von Mildtätigkeit, der mich störte und mir irgendwie suspekt war. Da ich ungemein schüchtern war und überhaupt kein Selbstbewusstsein hatte, nahmen mich zunächst eher solche Mädchen mit, bei denen mich das Gefühl beschlich, ich sei gewissermaßen das letzte Aufgebot. Dass sich überhaupt eine um mich kümmerte, erschien mir schwindelerregend, hatte mir die Stiefmutter doch mit auf den Weg gegeben, dass so einer wie ich nie im Leben eine Frau finden werde. Sollte ich aber mit einer Französin kommen, würde sie diese die Treppe hinabwerfen.
Eine Freundin, Ariane Borrel, wollte mich in der Rue de Rennes an ihrem Plattenspieler davon überzeugen, dass Gabriel Faurés Requiem mit seinem friedvollen tröstlichen »Pie Jesu« alle andere Trauermusik in den Schatten stellte. Ich hörte mir dies an, war aber keineswegs bereit, auch nur ein wenig von der Erregung abzugeben, die Brahms’ »Deutsches Requiem« oder das Mozart-Requiem in mir auslösten. Und irgendwie passte es, dass sich unser etwas müdes und schüchternes Gespräch auf dem Kanapee in der Rue de Rennes um Totenmessen drehte. Ich spürte nicht nur hier die Stereotypie von Bewunderung und Kritik. In trostloser Erinnerung geblieben ist mir auch ein Mittagessen am 30. März 1994 in den Salons der Académie Française anlässlich der Aufnahme von Yosoji Kobayashi in die Reihen der Académie des Beaux-Arts. Er war als Nachfolger von Salvador Dalí gewählt worden. Mein Tischnachbar, Musikologe und Mitglied der entsprechenden Abteilung der Académie, wollte mir klarmachen, dass man bei Beethoven, so bedeutend er auch sei, doch einen schwerwiegenden Mangel festzustellen habe, da man bei ihm im Unterschied zu den französischen Komponisten des neunzehnten Jahrhunderts kaum eingängige Melodien fände. Er dachte hierbei wohl an Jules Massenet und Vincent d’Indy.
Die netten und offenen französischen Studenten und Studentinnen, denen ich nach meiner Ankunft begegnete, organisierten Theaterbesuche, Novenen, sprachen viel von Ökumene und bereiteten nicht zuletzt die alljährliche Wallfahrt nach Chartres vor, die einen riesigen Tross in drei Tagesmärschen durch die flache, fruchtbare Beauce zur Kathedrale führte. Der Vater eines neuen Freundes aus der Umgebung des Château de Vincennes, ein General, begrüßte mich mit der Milde des Siegers. Ich hatte das Gefühl, er wolle nur ganz leicht den Fuß auf meinen überwältigten Leib stellen. Das entnahm ich seinen Ausführungen und Andeutungen. Wie unterlegen ich war, zeigte sich, als es darum ging, bei Tisch einen großen Apfel mit Messer und Gabel zu verzehren. Die Frucht zu
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