Mein Glueck
Unmenschlichkeit im eigenen Land hervorbringen musste, über Vertreibung, Bombardements, Spaltung des Landes gesprochen. So als ließen sich die eigenen, selbst verschuldeten Opfer mit den Ermordeten verrechnen. Diese Art der Zurückeroberung eines Nationalstolzes, einer Normalität, einer Rechthaberei, die den Radiergummi ansetzt, ist das, was die deutsche Gesellschaft auf widerliche und gefährliche Weise verändert hat.
Mutter Margarete mit den fünf Kindern
Werner Spies mit Vater und den Schwestern Annerose (Mitte) und Elfriede
Unerträglich fand ich, dass die deutsche Sprache durch Hitler unter die Aussätzigen geraten war. Dies bedrückte mich unendlich. Und ich erinnere mich mit Dankbarkeit und Rührung an eine Feier am 30. Mai 1985 , die die Bayerische Akademie der Künste für Dietrich Fischer-Dieskau zum sechzigsten Geburtstag organisiert hatte. Auf seinen Wunsch hielt ich dabei eine Ansprache, die ich nach Beethovens vierzehnter Klaviersonate unter den Titel »Quasi una fantasia« stellte. Es ging dabei um die aktive Beziehung des malenden Freundes, den ich über Max Ernst kennengelernt hatte, zur bildenden Kunst und um die »zeitanhaltende Tätigkeit« des Malers, die sich in den Selbstporträts wie eine Vereisung der tränenblinden Vereinsamung des König Lear niederschlägt. Darauf folgte die Rede von Joachim Kaiser, die mich bis heute nicht mehr losgelassen hat. Er machte allen deutlich, dass es Fischer-Dieskau gelungen war, mit seinem beispiellosen Einsatz für die Lieder von Schubert, Schumann, Brahms, Wolf und Richard Strauss dafür zu sorgen, dass die deutsche Poesie und die deutsche Sprache weltweit in ein Rettungsboot, das der Musik, umsteigen konnte. Neben Kahnweiler interessierte sich allenfalls noch Henri Seyrig, der Direktor des Louvre, für meine deutsche, schwäbische Herkunft. Ich traf den großen Archäologen und Gründungsdirektor des Institut français d’archéologie du Proche-Orient zusammen mit seiner Familie bei Kahnweiler. Er war damals Direktor des Louvre. Und er lud mich erstmals am 7. Februar 1962 in seine Wohnung im Südflügel des Museums zum Mittagessen ein. Dazu hatte er auch Michel Laclotte kommen lassen, der, wie mir Seyrig schrieb, sich darauf freue, mich kennenzulernen und mir die Sammlungen des Museums zu zeigen. Durch Seyrig und Kahnweiler lernte ich im übrigen auch Georges Schehadé kennen, der den Surrealisten nahestand und auch mit Max Ernst befreundet war. Er liebte das Groteske, und kurz vor unserer Begegnung war sein Stück Die Veilchen , in dem ein Physiker Kernspaltung mit Veilchen betreibt und damit den Weltuntergang hervorruft, uraufgeführt worden. Die Mitarbeit am Süddeutschen Rundfunk lockte ihn. Seine Frau Brigitte hatte für ihn zuvor einige deutsche Manuskripte gelesen, die ich ihm zugesandt hatte. Erstmals merkte ich, dass das Tübingen, auf das ich stolz war, irgendwie weit wegzurücken begann. Der Vater der angebeteten Schauspielerin Delphine Seyrig, die in Robbe-Grillets L’année dernière à Marienbad ( Letztes Jahr in Marienbad ) die Hauptrolle spielt, kannte die Stadt und ihre vergangene intellektuelle Reputation, den Namen sprach er jedoch völlig anders aus. Aus Tübingen wurde ein fremdes, ja feindliches »Tubingue«, die besetzte Stadt, die lange unter der Oberhoheit der französischen Besatzung verwaltet wurde. Das klang irgendwie nach Bestrafung. Meinen Stolz auf den Geburtsort schmälerten auch sonst regelmäßig alle jene, die hinter meinem Hinweis auf die Herkunft aus der schönen Stadt eine Usurpation sahen. Sie verbesserten spottend, nicht aus Tübingen komme ich, sondern aus der Tübinger Frauenklinik. In der Tat, ein ärgerlicheres Missverhältnis zwischen Anspruch und Realität ließ sich für mich in frühen Jahren kaum denken. Welch ein schwer zu ertragender, eigentlich erniedrigender Gegensatz: Adel der Universitätsstadt, Wiege des Idealismus und der Poesie, Stocherkahnfahrten der Studenten auf dem Neckar, majestätische Platanenallee neben dem Fluss und unvergessliche schwärmerische Wanderungen über den Spitzberg zur Wurmlinger Kapelle – und daneben Rottenburg, ein, wie ich traurig feststellte, hoffnungslos plebejischer Ort. Gülle und dampfende Bläschen im Abwasser, das offen in den Straßenkandeln floss, Wäsche vor den Fenstern mussten dem Bewohner der Bischofsstadt jeden Dünkel nehmen. Erst in späteren Jahren sah ich ein, wie sehr ich mich hatte täuschen lassen. Ich betrete heute glücklich und voller
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