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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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geflüchtet und wurde dort von den Wachhabenden tödlich angeschossen. Es war der feuchte, schattige Friedhof, auf dem wir unsere Vögel, Katzen, Igel und Hasen bestatteten. Dieser idyllische Ort wurde nun blitzartig und unwiderruflich gestört.
    Der Garten war mir zuvor als ein Paradies erschienen. In dieser Welt hatte mir die Patentante eine winzige Parzelle anvertraut, in der ich Gärtner spielen durfte. Nie stand ich einem Fleckchen Erde näher. Auf ihm kannte ich jeden Quadratzentimeter, jeden Regentropfen, der an einem Blatt zitterte. Es war dies die passionierte, verwirrende Inbesitznahme einer Stelle, die ich sonst wohl gar nicht wahrgenommen hätte. Ich wollte schnelle Resultate. Deshalb säte ich mit Vorliebe scharf schmeckende Gartenkresse aus, die über Nacht auskeimte. Etwas Flinkeres gab es nicht im Garten. Mit einem Schlag schwebte Grün über der braunen Erde. Oder aber ich zog gelbe Rüben. Sobald das erste Büschelchen zu beobachten war, versuchte ich das Wachstum zu beschleunigen, fingerte am Grün und zog vorsichtig daran, um freudig das erste Rotgelb zu entdecken. Alle Pflanzen wurden mir gezeigt, erklärt, alle Vögel und Insekten, die auftauchten, hatten ihre Namen. Hahnenfuß, Schlüsselblumen, Wiesenschaumkraut, Glockenblumen, Wiesenstorchschnabel, Klappertopf, Taubnessel, rosaroter Phlox, dessen süße Blütenkelche wir aussaugten, Breitwegerich oder Salbei, es waren nicht zuletzt auch Namen, die mir behagten. Mein Vater führte mich stundenlang mit unendlicher Geduld über die Felder und Wiesen in der näheren Umgebung. Er kannte alles, erklärte mir alles. Tags waren es die Blumen, die Tiere und die geologischen Details, nachts der Sternenhimmel. Ich fragte ihn nach der Unendlichkeit, danach, wie weit man zählen könne, was nach den Trillionen und Quadrillionen komme. Am fassbarsten wurde mir das Unfassbare im Umgang mit einem Bündel Inflationsgeld. Hier durfte ich mit Billionen spielen. Der Vater gab mir eine Vorstellung von der Quantität dieser Summen. Man habe damals in den Bäckereien oder Metzgereien die Geldscheine gar nicht mehr gezählt, sondern abgewogen. Diese Wanderungen und Exkursionen führten in eine helle, heiter begrenzte Landschaft. Jeder der kleinen runden Hügel, die im Süden der Stadt die Nähe der schwäbischen Alb ankündigten, erzählten die Geschwister, sei von mir zum persönlichen Freund erkoren worden. Jedem gab ich einen Namen, und jeden grüßte ich aus der Ferne. Blumen, Berge, Himmel ließen sich nicht trennen. Sie alle verbanden sich auf wunderbare Weise. Das rührte mich später auch bei Anselm Kiefer, der für die Unfähigkeit, Dinge zu vereinzeln, ein schönes Wort gefunden hatte: »Jeder Pflanze auf Erden entspricht ein Stern im Firmament.« Doch nun wurde aus meinem idyllischen Fleckchen Erde ein Platz des Grausens, an den ich forthin nur mit Widerwillen denken konnte. Alles erschien mir blitzartig dunkel und verfault. Unter der Oberfläche im schlafenden, gelähmten Fleisch des Tierfriedhofs nistete sich die Vorstellung von Tod und Verwesung ein. Ich glaubte die langsame Bewegung von Larven und Würmern zu spüren, die am Beginn von David Lynchs »Blue Velvet« die Erde in Bewegung versetzt. Der Garten war zerstört. Und der Wechsel im Anblick, den er mir bot, trieb mich in eine Angst, die Max Horkheimer auf unvergessliche Weise beschrieben hat: »Aus der Perspektive des Wurms, ja des geraubten Kindes in den Mythen der Vögel, bilden Vögel das Entsetzen. Wenn die Rotkehlchen im Frühling sich in deinem Garten zeigen, zeugen sie für Schönheit und Freiheit. Ist der Mensch etwa wirklich – im objektiven Sinn – das Maß aller Dinge? Unsere Wahrnehmung im Garten kann doch nicht lügen!« Von diesem Tag an konnte ich keinen kleinen Vogel, der aus dem Nest gefallen war, mehr in meiner Hand halten. Ich spürte das Kitzeln eines Kadavers. Und dieser Tod hinterm Haus ereignete sich nahezu an der Stelle, an der ein, zwei Jahre zuvor ein marokkanischer Besatzungssoldat eine Nachbarin vergewaltigt hatte. Es hieß, die Franzosen hätten nach dem Einzug in die Stadt die marokkanische Truppe mit Alkohol aufgeheizt. Zum Tatort, dem geheimnisumlagerten Gartenhäuschen der Nachbarfamilie Stengele, hatten wir keinen Zugang. Wir durften dieses auch nie in unser Spiel einschließen. Der Soldat soll, wie wir den Andeutungen der Erwachsenen entnehmen konnten, zur Abschreckung öffentlich auf dem Marktplatz erschossen worden sein.
    Gaston, der französische

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