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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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Hedonismus beziehen könnte –, ließ darauf schließen, dass er im Widerstand, den diese Bilder hervorriefen und den er ertrug, so etwas wie einen Stolz verspürte, den nur wenige, nur Eingeweihte wie er, zu empfinden vermochten. Nicht von ungefähr setzt sein ästhetischer Rigorismus kurz nach seiner Ankunft in Paris mit einer richtiggehend panischen Ablehnung des Epochenstils Impressionismus ein. Er fordert im Gegensatz zur sinnlichen Überwältigung eine Gregorianik für die Augen. Seine Versöhnung mit den späten Exzessen im Werk Picassos erschien aus diesem Grund als eine Art Revival des Symbolismus, dem es darum ging, Verständlichkeit und Popularität auszuschließen. Ich spürte dies besonders während der letzten Lebensjahre Picassos. Die neuesten Bilder riefen richtiggehend nach dem Hass von Kritik und von Kennerschaft.
    Nach dem Tod von Michel Leiris am 30. September 1990 wurde ich, wie es im Hause Kahnweiler üblich war, eingeladen, den Freund noch einmal zu sehen. Sein Tod folgte um weniges auf den des Kunsthändlers, der fünfundneunzig Jahre alt geworden war. Auf Kahnweilers Gesicht hatte man weißen Puder und Rouge gelegt. Er war in der Wohnung aufgebahrt. Michel war der letzte in einer Familie, die ohne Nachkommenschaft geblieben war. Ich fuhr im Haus Nr. 53 bis, am Quai des Grands-Augustins, in den vierten Stock, in die weitläufige Wohnung, wo wir so oft zusammen gewesen waren. Von hier aus ließ sich die ganze Île de la Cité überblicken, und rechts sah man den pfeilartigen Turm der Sainte-Chapelle. Bis zum Louvre reichte die Sicht flussabwärts und im Osten bis zu den Türmen von Notre-Dame. Auf dem Weg dorthin kamen mir die Tischgespräche wieder in den Sinn, während derer die pausenlos häkelnde Mademoiselle Jeanne die einzige, angstvolle Frage gestellt hatte, die ihr im Leben geblieben war: ob man wohl in dem winzigen Aufzug, der eben eingebaut worden war, überhaupt einen Sarg aus dem Appartement nach unten transportieren könne. Worauf die Männer im Hause, Michel Leiris und Kahnweiler, beruhigend oder aufmunternd meinten, dafür ließe sich gegebenenfalls sicher eine Lösung finden. Als ich auf dem Treppenabsatz vor der Wohnung stand, trat Henri Cartier-Bresson mit seiner Leica aus der Tür. Er legte den Zeigefinger auf die Lippen und flüsterte: »Du wirst sehen, Michel sieht lebendiger aus als je zuvor.« Man führte mich in den großen Salon. Auf dem Kanapee lag der Tote, der aus Saint-Hilaire hierher überführt worden war, neben sich ein Hut und griffbereit ein braunes Spazierstöckchen. Der Tod ist offensichtlich ein geeigneter Moment für Verkleidungen und Rollenspiele. Die Szenerie ließ an Puppen denken, die man immer auf neue Weise anziehen kann, und die Inszenierung erinnerte an die Siesta in den Filmen Charlie Chaplins, womit jener sich immer wieder für die nächste Aktion zu sammeln suchte. Michel Leiris schien nur noch etwas kleiner geworden zu sein. Ich war allein mit ihm im stillen, halbdunklen Raum, und es schien mir unglaubwürdig, dass dieser Mann über den Schlaf hinaus zu schlafen begonnen hatte. Ich setzte an, zwischen Büchern, Bildern und tickenden Uhren zu reden, ihn leise anzurufen: »Michel, hör auf, simuliere nicht.« Wenige Tage danach trafen sich Freunde und Bekannte unter der neobyzantinischen Kuppel des Friedhofs Père Lachaise. Der Tote hatte darauf bestanden, sich einäschern zu lassen. Denn bei der Beerdigung seiner Frau Louise Leiris hatte es eine Panne gegeben. Der Sarg passte nicht durch die Öffnung des Grabs. Sie musste verbreitert werden. Michel wollte keine Schwierigkeiten bereiten. Nicht verschwinden zu können, ohne eine Spur zu lassen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, das war in seinen Augen eine demütigende Rache des Körpers über den Tod hinaus. Dies gab dem Leichnam eine Bedeutung, die er ihm nicht zugestehen wollte. Für die Wartezeit unter der Kuppel mit ihrem blauen Sternenhimmel hatte er sich »Simone Boccanegra« gewünscht. Es war erstaunlich, dass er eine Partitur ausgesucht hatte, in der so stark die Männerstimmen dominieren. Doch auch Verdi konnte nicht die widerlichen rumpelnden Geräusche der Verrichtungen übertönen, die durch den Fußboden in den Zentralraum drangen. Die Mischung aus einer Musik, die miserablen Lautsprechern entquoll, und aus dumpfem Feuersturm schien kein Ende zu nehmen. Es war eine quälend-dilettantische Prozedur, bei der sich die Gäste, die den schmächtigen Freund vor Augen hatten, immer

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