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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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im Alter zu wissen, warum er wartete, auf was er wartete. Es war eine Morosität, der dieser aktive, unerhört musikalische Mann erst spät, Jahre nach dem Tod unserer Mutter, verfallen war. Doch immer wieder konnte diese bodenlose, unheilbare Verdrießlichkeit für kurze Zeit verschwinden. Um einen Grund für das Warten zu finden, meinte er dann, heute werde sicherlich seine Schwester Maria aus Ludwigsburg zu Besuch kommen. Diese Vorfreude steckte uns alle an. Allerdings kam diese herzensgute Tante, die uns ab und zu Würste, Fleisch und zu Weihnachten eine zumeist versalzene gepökelte Rinderzunge übersandte, allenfalls ein- oder zweimal im Jahr. Sein Ausharren in der Leere erschien mir wie eine unkündbare Option auf das Nichts. Als er im Krankenhaus im Sterben lag, brachte ich kein Wort über die Lippen, das meine Rührung gezeigt hätte. Er erwartete dies auch nicht. Er bat mich, ihm eine Zigarre zu besorgen. Als ich antwortete, er könne hier doch nicht rauchen, kam ein Wort, das fast das letzte war, das ich von ihm hörte: »Du Feigling.« Ich habe darüber immer Scham empfunden und mir vorgeworfen, dass ich ihn so verlassen hatte. Nach diesem letzten Besuch im Rottenburger Krankenhaus flog ich zurück nach Paris. Ich sah die Landschaft, über der ich schwebte, zum letzten Mal zu Lebzeiten des Vaters. Und ich sah sie auf völlig neue Weise. Alles schien in eine Art Übernähe gerückt zu sein. Die Gegend zwischen Tübingen und dem Schwarzwald erschreckte mich heftig. Alles schien leer. Zwei Tage später erhielt ich spätabends einen Anruf von meiner Schwester Elfriede, die mir mitteilte, dass der Vater eben gestorben sei. Zunächst fühlte ich nichts, spürte ich nichts. Ich versuchte diesen Mangel an Empfindung, für den ich mich schämte, in mir zu bekämpfen. Doch ich konnte nichts dagegen tun. Eine völlige Lähmung hatte mich ergriffen. Erst später, unerwartet und unkontrollierbar, brach der Schmerz aus. Ich wusste, dass keines seiner Kinder mit ihm die letzten Stunden verbracht hatte. Es war die Scheu, die auch jetzt nicht zu durchbrechen war. Niemand wollte vor der Beerdigung auf dem Sülchener Friedhof einen Blick in den geöffneten Sarg werfen. Beim Zusammensein im Anschluss sprach man auf ungewisse Weise von anderem. Jeder versteckte seine Verletzlichkeit hinter Witzeleien und Tränen. Monique und ich fuhren am selben Abend mit dem Zug noch weiter nach Basel. Dort sollte am folgenden Tag das von Paul und Maja Sacher und der Familie Oeri gestiftete Museum für Gegenwartskunst am St.-Alban-Rheinweg eröffnet werden. Und ich hielt, wie vereinbart, eine Rede, und Mstislav Rostropowitsch, der mich herzte und mit randvollem Wodkaglas als Freund begrüßte, spielte eine Cellosuite von Bach. In der Nacht hatte ich einen furchtbaren Traum. Ich sah das Grab, sah, wie mein Vater, der mich dabei anschaute, ganz langsam in der Erde versank, und wie ihn dabei nach und nach eine Haut umgab, die alles mitriss, was in Reichweite war. Nur seine Augen blieben klar und offen.
    Gegenüber dem Haus, in dem unsere siebenköpfige Familie untergebracht war, lag die Klosterschule St. Klara, ein dreistöckiger, reich gegliederter, symmetrischer Ziegelbau aus dem neunzehnten Jahrhundert, in dem die Franziskanerinnen mit ihren schwarzen Kastenhauben unterrichteten. Sie erschienen mir sympathischer als die Vinzentinerinnen vom Martinihaus, mit denen ich später zu tun hatte. Diese trugen auf dem Kopf weiße »Drachenhauben«. Doch beide ließen mich nicht los. Ich überlegte mir, ob man die frommen Schwestern nicht wie unsere Drachen, die wir damals bauten und im Herbstwind fliegen ließen, in den Himmel auffahren lassen könnte. Das rhythmische Spiel aus hellerem und blutigerem Rot verlieh dem Gebäude von St. Klara einen unerträglichen bösen Charakter. Man konnte es mit einem Schlachthaus verwechseln. So stellte ich mir inmitten der Sündigkeit, in die wir mit ständigen Verboten und Warnungen regelrecht hineingedrängt wurden, das gebaute schlechte Gewissen vor. Und in dieser Straße, über die es zur Wallfahrtskirche Weggental ging, gab es eine Reihe von Häusern ohne Kinder, in denen Prälaten, Domkapitulare, Dompräbendare und andere Geistliche residierten. Ich weiß nicht, wie oft ich täglich die Losung »Gelobt sei Jesus Christus« zu murmeln hatte. Dies blieb für uns, wie die Antwort, die wir hörten, eine absolut nichtssagende Formel. Sie spielte dieselbe Rolle wie das »Heil Hitler«, das noch kurz im

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