Mein Glueck
Nachgeschmack ausbreitete. Der Blick auf diese Blütenpracht nistete sich in Gaumen und Auge ein wie die kleinen dunkelblauen Schlehen, die im Herbst aus den Dornen hervorglänzten und die ich zwischen den Brennnesseln und Kletten pflückte, in den Mund nahm und mit leidender Wollust zerbiss. Zu dieser Stelle, eine halbe Stunde von unserem Haus entfernt, wanderte ich gerne. Sie liegt über den Terrassen der Weinberge auf der Höhe der Franziskanerkirche Weggental. Deren mächtige, reich bestückte Krippe konnten wir in der Weihnachtszeit auch über Stunden nicht vollständig erkunden. Vor allem waren wir überglücklich, den kleinen sitzenden schwarzen Buben im Vordergrund zu sehen, der jedes Mal, wenn Besucher eine Münze durch einen Schlitz im Sockel schoben, freundlich und ehrerbietig nickte. Wenn zwanzig Mark in der Büchse zusammengekommen waren, konnte – so wussten wir – ein kleiner, schwarzer Heide getauft, seine Seele gerettet und ihm zudem ein christlicher Vorname verliehen werden. Diesem berühmten »Nickneger«, den wir ins Herz geschlossen hatten, wurde eines Tages der Hals versteift, damit er sich nicht mehr verbeugen konnte. Ein schwarzer Würdenträger aus Afrika, der in den siebziger Jahren ins Weggental gepilgert war, hatte gegen die koloniale Servilität protestiert, zu der man seinen Landsmann in Form der kleinen Figur erniedrigt hatte.
Meine ersten Erfahrungen und Erinnerungen bleiben an das gebunden, was zur Bischofsstadt passt. Ausgerechnet diesen unscheinbaren, mittelgroßen Ort hatte 1821 Württembergs König Wilhelm als Sitz für den Bischof der neugegründeten Diözese ausgesucht. Dahinter verbarg sich unübersehbar ein abschätziger, demütigender Umgang mit den Katholiken. Wir lebten in einer angenehmen, noch ländlichen Straße. Überall öffneten sich Ausblicke auf die Landschaft. Die Vorgärten hinter den hölzernen, zumeist niedrigen Zäunen eiferten miteinander. Es gab, soweit ich mich zurückerinnern kann, eine fromme Grenze, die wir Kinder Tag für Tag passieren mussten. Wenn ich aus der Haustür des weißverputzten Elternhauses heraustrat – dessen Vorderseite auf der zweiten Etage, in der wir lebten, eine prall gespannte busenförmige Ausbuchung zeigte – und über ein nur wenige Meter breites Brückchen auf die Straße gelangte, traf ich als erstes auf Nonnen und Priester. Fast das ganze Jahr über gab es in der Senke des Bachs kein Wasser. Nur wenn im Frühjahr die Schneeschmelze einsetzte, führte der Graben Wasser. Dann aber konnte es dazu kommen, dass alle Wiesen und Gärten um das Haus überschwemmt wurden und man den Zugang zu unserem Haus nicht mehr passieren konnte. Welche Freude, wenn dann zwei, drei Tage lang die Schule ausfiel. Und wie bestrickend war es, mit anzusehen, wie in der Sonne unter der spiegelglatten Flut, wie unter einer Lupe, Steine und Gräser gestochen scharf und glänzend hervortraten.
An die leicht biomorphe Ausbuchtung der Fassade, in die im Spätherbst Doppelfenster eingelassen waren, erinnere ich mich heute nur mit einer Art von Unwohlsein. Als er älter, alt geworden war, stand der Vater oft hinter den spiegelnden Scheiben. Sie wirkten wie Vitrinen. Ich konnte den Vater von der Straße aus nur schemenhaft sehen, als sei er bereits im Verschwinden begriffen. Er wartete, und dieses Bild hat sich mir wie eine metaphysische Stellprobe eingeprägt. Nie konnte ich später an Becketts Warten auf Godot denken, ohne den endlosen, auf das Nichts gerichteten Blick des Vaters vor mir zu sehen. Heute weiß ich es, er lebte in einem Kokon der Angst. Ich hatte tiefes Mitleid mit ihm, wagte es jedoch nicht, ihm meine Zuneigung zu zeigen. Nie hat er uns etwas Persönliches gesagt oder uns in seine Angst eingeweiht. Nach seinem Tode fanden wir sein Tagebuch, das er während des Ersten Weltkriegs geführt hatte. Hinweise auf die Schlächtereien, den tosenden Kampf an der Front, auf Verwundete und Leichen tauchen darin auf. Doch eigentlich geht es darum, innerhalb dieses Gemetzels nicht völlig die menschliche Würde zu verlieren. Im Vordergrund stehen Naturbeobachtungen, Beschreibungen der Weizenfelder, Hinweise auf das Logis bei französischen Familien in Lothringen und die Noblesse des Feindes, die ihn immer wieder zu Klavierabenden ermutigt hatte, bei denen er Chopin oder auch Gounod spielte. Ein wenig ließ mich dieser hoffnungslose Wunsch nach Annäherung an Vercors’ Le silence de la mer ( Das Schweigen des Meeres ) denken. Nur ganz selten schien Vater
Weitere Kostenlose Bücher