Mein Glueck
Zivilarbeiter, der bei uns in den letzten Kriegsjahren im Hause untergebracht war, hatte nach dem Einmarsch andere Frauen beschützt und an der Festnahme mitgewirkt. Wir Kinder fanden ihn alle nett und freundlich. Für uns war es selbstverständlich, dass es für ihn keine andere Möglichkeit gab, als nett zu uns zu sein. Als ich Jahre später nach Paris zog, empfand ich es als meine Pflicht, zunächst Gaston in Châteaufort, einem, wie es mir schien, unscheinbaren, ja ärmlichen Dorf mit weniger als tausend Einwohnern, aufzusuchen. Es liegt neun Kilometer südlich von Versailles. Ich erinnere mich an die Kirche Saint-Christophe mit ihrem wehrhaften Turm, der sich massig über zwei Etagen erhebt, und an ein schlichtes, schmuckloses Rathaus mit einem Durchgang im Erdgeschoss, in dessen Nähe sich die Wohnung Gastons befand. Es war mein erster Besuch in einer solchen französischen Gemeinde. Alles schien in einer früheren Zeit eingefroren worden zu sein. Dabei begegnete ich hier der Stimmung, die bis heute noch in zahllosen Dörfern Frankreichs anzutreffen ist, dem Geist der beständigen, konservierenden Zeit, die den Besucher der Orte, an denen noch keine Supermärkte und Gewerbegebiete die Häuser und Gärten belagern, tief beglückt. Gaston war in der Nähe, an dem kleinen Privatflugplatz in Saint-Cyr-l’École, angestellt. Nach dem Essen organisierte er für mich einen Flug in einem Zweisitzer. Dieser führte über das Schloss von Versailles und den weitläufigen, in Ornamente zerlegten Park mit den mächtigen Bassins. Es kam mir vor, als schwebte ich über einer riesigen, regelmäßigen Tapisserie, in der sich die Motive spiegelten. Wir blieben auf einer Höhe, wo das Gesehene zwischen Greifbarkeit und Ungreifbarkeit schwankt. Eines meiner Lieblingsbücher, Selma Lagerlöfs Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen , verstärkte dieses Erlebnis noch. In verwirrender, ja störender Erinnerung bleibt mir die Frau Gastons, die schweigend diesem irgendwie von mir aufgezwungenen Wiedersehen beiwohnte. Wie abwesend, völlig verstört und mechanisch zog sie Büschel aus ihrem schwarzsilbernen Haar. In diesem Augenblick spürte ich, dass die deutsch-französische Annäherung, die mir so selbstverständlich schien, unendliche Hindernisse zu überwinden habe. Es blieb bei diesem einzigen Besuch. Und dieser erfüllt mich nachträglich mit Scham. Ich hatte kein Recht, Gaston und seine Frau in diese böse Zeit zurückzuversetzen. Doch ich hätte ungern auf das Treffen verzichten wollen, da ich bei diesem Wiedersehen eine Art von entfremdeter und dennoch heimatlicher Nähe gespürt hatte, die auf die Ressourcen der Zeit zurückgriff, die Gaston und mich peinlich und stark berührte.
Rottenburg liegt, im Vergleich zu Tübingen, einige Kilometer neckaraufwärts, an einer Stelle des Tales, an welcher der erste Wein in der Gegend wächst. Als Kinder sahen wir nichts Wertvolleres und Begehrenswerteres als die weißen und blauen Trauben, die im Herbst auf kleinen Karren in die Stadt gefahren wurden. Es war so gut wie ausgeschlossen, davon etwas zu ergattern. Wäre es nicht möglich, den Abstand zwischen den beiden so ungleichen Städten zum Verschwinden zu bringen? Immer wieder träumte ich als Junge davon, diese offene Wunde ließe sich am besten dadurch schließen, dass sich das ganze Neckartal zwischen Tübingen und Rottenburg nach und nach mit Häusern fülle und auf diese Weise untrennbar zu einer einzigen, richtigen Stadt zusammenwachse, mit der Wurmlinger Kapelle als krönendem Höhepunkt einer künftigen Akropolis. Dieses Verlangen, die ganze Landschaft einzugemeinden, beschäftigte mich, und ich rechnete aus, wie viele Jahre es wohl dauern würde, bis diese Hoffnung Realität würde. Es war ein Wunsch, dem ich kurioserweise an Orten nachhing, die mir als die herrlichsten der ganzen Gegend erschienen, an Plätzen der Einsamkeit – oben auf der Wurmlinger Kapelle, um die der »Wurmlinger Zucker«, der Glimmer des Katzensilbers, funkelt oder am »Huthüttle« zwischen Rottenburg und Remmingsheim, das über dem »Trichter«, dem Eingang zu einem völlig unberührten Seitental, wachte und das im Frühling von einer Nacht auf die andere von einer Explosion blendendweißer Blüten überzogen wurde. Etwas Herbes lag über diesem Bild, etwas, was ich nur hier spüren konnte. Es war die Schönheit des Schlehdorns, eine gallebittere Schönheit, die sich im Mund und im Kopf als ein lang anhaltender
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