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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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Kinder zur Welt gebracht hatte. Mein Vater und die älteren Geschwister fuhren während der nächsten Tage weiterhin mit dem Fahrrad nach Tübingen, oder sie gingen schließlich zu Fuß in die Universitätsstadt. Ständig tauchten Tiefflieger mit Scharfschützen auf. Wiederholt mussten sich Günther und Elfriede in die rettende Deckung des Straßengrabens werfen. Annerose, unsere älteste Schwester, war im Arbeitsdienst. Auch zwei Telegramme, die sie über den kritischen Zustand der Mutter informierten, konnten nichts ausrichten, bei dem Versuch, einen Besuch zu ermöglichen. Sie wurde erst nach Mutters Tod benachrichtigt und nach Hause entlassen. Ich stand am 22. März 1945 gegen Abend mit meiner kleinen Schwester allein auf dem Rasen vor dem Haus. Es gibt unter den wenigen Fotos aus der Kindheit eines, auf dem ich an derselben Stelle neben der Weißtanne glücklich neben Elisabeth in die Kamera lächle. Mein Vater kam auf dem Fahrrad aus Tübingen zurück und stieg, völlig zerschlagen, wortlos ab. Es muss gegen 19 Uhr gewesen sein, und eine Stunde zuvor war, wie wir erfuhren, die Mutter gestorben. Später fand ich das unerhörte Wort Kierkegaards, welches das Dunkel, das über mich hereinbrach, zu beschreiben vermag: »Wenn das Kind entwöhnt werden soll, so schwärzt die Mutter ihre Brust, es wäre ja schade, sähe die Brust lieblich aus und das Kind dürfte sie nicht bekommen. Dann glaubt das Kind, die Brust habe sich verändert, aber die Mutter ist die gleiche, ihr Blick ist liebevoll und zärtlich wie immer. Wohl dem, der nicht entsetzlicherer Mittel bedurfte, um das Kind zu entwöhnen!« Der Hausbesitzer, der Kinder und vor allem mich verabscheute, hatte am frühen Nachmittag einen Satz gesprochen, dessen arge Prophetie ich nicht verstehen konnte: »Nun wirst du bald keine Mutter mehr haben.« Es war der Mann meiner Patentante, in deren Haus wir wohnten. Wenige Wochen zuvor hatte er mich, weil ich im Garten zu laut war, an den Haaren gepackt und mit dem Kopf gegen die Mauer gestoßen, so stark, dass ich blutete. Ich sehe noch vor mir, mit welcher jähzornigen Gewalt sich meine Mutter auf den Hausherrn stürzte. Dieser hatte es darauf abgesehen, unentwegt das Paradies zu stören, in dem wir in seinen Augen zu leben schienen. Auch die Eltern mussten alles tun, uns vom Aufenthalt im Garten abzuhalten. Dazu gehörte der Mittagsschlaf. Alle Versuche, mich davonzuschleichen, halfen nichts. Regelmäßig wurde ich wieder zurückgeholt und ins Bett gesteckt. Abends mussten ich und meine jüngere Schwester Elisabeth spätestens um 8 Uhr im Bett sein. Es gab von dieser Regel keine Ausnahmen. Vor allem in der schönen, hellen Saison war dies grausam. Natürlich war es unmöglich zu schlafen, und ich habe besonders in dieser Zeit keine einzige Minute die Augen zugebracht. Wir hingen am Fenster und hörten die Spielgefährten um das Haus herum jauchzen und rufen, aber wir durften nicht zu ihnen. Der verbotene Garten erschien mir wie ein verwunschener Park, in dem sich hohe, seltene Bäume zu einer Vielfalt von Grün- und Rottönen gruppierten. Denn was ich hier entdecken konnte, war völlig anders als das, was auch die schönsten Ausflüge auf die Wiesen und in die Wälder der Umgebung bieten konnten. Die Blutbuchen, unter denen ich stand und angstvoll auf rote Tropfen wartete, die Bäume mit Blättern, auf denen wie auf einer Palette Weiß und Hellgrün unvermischt nebeneinanderlagen und die ich für mich die Halbalbinos nannte, das alles drang tief in mich ein. Ich glaube nicht, dass ich noch einmal so intensiv und staunend die Aufhebung des Gewöhnlichen und Gewohnten in der Natur erlebte. Doch das kleine Arboretum und der Steingarten mit Katzenpfötchen, Grasnelke, Lederbalsam und dickblättrigem, fleischigem Hauswurz blieben weitgehend für uns gesperrt. Vor dem Sempervivum auf den Rabatten um das Haus konnte ich lange stehen und warten, ob sich die grünen Lappen nicht doch wie eine Schildkröte oder gar wie eine Echse der Urzeit bewegten. Hinter diesem Sempervivum schien eine andere Ordnung der Natur zu walten, jene Langsamkeit, die die Zellen in die Richtung einer unverweslichen Versteinerung presst. Es steckte ein Stück Unsterblichkeit in diesen Pflanzen mit ihrem eingedickten, milchigen Blut. Ich begegnete ihnen später wieder in André Bretons Schilderung vom Aufstieg zu den Höhen des Berges Teide auf Teneriffa, der durch schwarze Lava führte. Dabei stößt Breton, umgeben von Vulkangestein und tödlicher

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