Mein Glueck
Kindergarten und im ersten und zweiten Schuljahr Pflicht gewesen war. In meiner Erinnerung überlagern sich diese Zeiten. Die Jahre, die ich im Kopf festzuhalten vermag, sind keineswegs scharf voneinander geschieden. Gehorsam und Autorität waren die Hauptsache, die uns Kinder beschäftigte. Das Kirchenjahr lieferte weitgehend die einzige Abwechslung. Der Flursegen, die Fronleichnamsprozession mit ihren Altären und den mit Millionen Blüten bedeckten Wegen, der Blasiussegen und die sinnlich-kühle Berührung mit den zwei Honigkerzen, das Erntedankfest mit Ähren, Früchten, Broten und rotgoldenen Kürbissen, all das waren für uns höchste Lustbarkeiten. Die Konfrontation zwischen dem katholischen Rottenburg und dem evangelischen Tübingen führte schnell zu Ausschlussgesten, die wiederum zur Entdeckung von Andersartigkeit und zu Fanatismus führten. Eine Tante, die ihren Mann im Krieg verloren hatte, wollte sich wiederverheiraten und stellte uns den künftigen Gatten vor. Ich erinnere mich voll Scham an meine flammenden Reden gegen die Mischehe, die die Tante und der künftige Mann schweigend mit anhören mussten. Diese Lust am Missionieren wurde uns im Religionsunterricht eingebleut. Mit dem Detailfanatismus und der Unfähigkeit zur Toleranz, wie sie Kindern eigen ist, wollten wir alles Fremdartige ausfindig machen. Wir redeten uns ein, dass die Wohnungen, in denen die wenigen Nichtkatholiken lebten, irgendwie anders rochen. Und wir übten uns darin, die vermeintlich säuerliche, fremdartige Aura aus immer größerer Entfernung, noch vor dem Betreten eines Hauseingangs in der Nachbarschaft, zu riechen. Dies war eine Fähigkeit, in der, wie ich später erfuhr, einer aus der Gruppe der Pariser Surrealisten eine bewundernswerte Meisterschaft erreichte. Er ließ sich mit verbundenen Augen durch verschiedene Arrondissements der Metropole führen. Sein olfaktorisches Vermögen, eine Art perfekte Nase, erlaubte es ihm, sich nirgends fremd zu fühlen und – wie bei Weinproben gute und schlechte Lagen – Straßen, Gassen, öffentliche Gebäude auf souveräne Weise auseinanderzuhalten und zu benennen. Aber diese Begabung war im Unterschied zu unserer bösen denunziatorischen Gewandtheit voller Poesie und Entdeckerglück. Es macht Angst, ständig darauf zu stoßen, dass einen das, was früh in einem angelegt worden ist, nie mehr loslassen wird. Meine Generation kann wohl kaum das Gefühl eines Makels, der Wörtern wie »schwul« anhängt, völlig loswerden. Und auch das Wort »Jude« ist vor dem Hintergrund dessen, was die Propaganda damals bereits im Kindergarten insinuierte, alles andere als eine wertfreie Bezeichnung. Immer muss sich etwas in uns – und das kann zum Selbsthass führen – gegen den widerlichen Oberton, für den wir empfänglich gemacht wurden, zur Wehr setzen.
Die Erinnerungen an das Elternhaus sind stark, und sie sind auf böse Weise zersprungen. Es bleiben glückliche Momente, die sich an Besuche bei Freunden, an das wenige Spielzeug, das wir besaßen, heften. Die Mutter war viel mit uns zusammen, spielte mit uns am liebsten »Halma«, auch »Mensch ärgere Dich nicht«, »Schwarzer Peter« oder »Domino«. Für mich war es ausgemacht, ich musste gewinnen.
Was gab es Mysteriöseres als Abziehbilder, die sich langsam im Wasser vom Papier lösten und deren Motive einem wie Erscheinungen vors Auge traten? Dann und wann hatten wir die Möglichkeit, einem dieser wasserlöslichen Blätter ihre Geheimnisse zu entlocken. Doch meine ganze Liebe gehörte einer kleinen Pumpe aus hellgrünem emailliertem Blech. Es war die schönste Nutzlosigkeit, die man im Umgang mit ihr entdecken durfte. Ich wurde zum Sisyphos an dem mit Wachstuch geschützten Tisch, der stundenlang ein Behältnis füllen und wieder leerpumpen musste. Der Tod der Mutter, der in die letzten Tage des Krieges fiel, warf mich aus der Zeit, aus der Kindheit. Gewiss rechnete damals jeder mit dem Ende, man war allenfalls überrascht von der Verzögerung, mit der der Tod die eine oder andere Familie aufsuchte. Bei mir ging die irreale Vorstellung, noch am Leben zu sein, so weit, dass ich bei den regelmäßigen Familienausflügen zum Sülchener Friedhof, über dem sich in nicht allzu großer Entfernung Ludwig Uhlands Wurmlinger Kapelle erhob, Frustration empfand. Wir besaßen ein Familiengrab, mit Rasenbank, schön gepflegt und bestanden mit violett aufblühendem Heidekraut. Es war ein Platz der Vorsorge. In der schlechten Zeit gehörte ein Grab zu
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