Mein Glueck
die regelmäßigen Besuche des Althistorikers Joseph Vogt von der Tübinger Universität. Dieser arbeitete damals über Konstantin und die Sklaverei in der Antike. Aber darauf, dass Vogt wegen seiner rassistischen und antisemitischen Überzeugung 1945 vorübergehend vom Dienst suspendiert worden war, kam nie die Rede. Im Gegenteil: Die Professorenkinder, die in ihren Sonntagskleidern ins Haus kamen und mit uns spielten, hatten wir ja anständig zu behandeln. Dabei waren sie es, die uns unter der kleinen Brücke, die in den Vorgarten zum Haus führte, das kleine Einmaleins der Aufklärung beibrachten. Für die frühreife und, wie ich damals fand, hübsche Tochter Doris und mich veranstalteten die gerührten Erwachsenen im Garten eine Kinderhochzeit.
In dem unnahbaren und schroffen Hausherrn Moritz Kessel erkannte ich die Verkörperung eines Genies, jedoch eines ohne eigenes Werk. Es schien mir, als hätte ich in ihm den ersten wahrhaft bedeutenden Menschen vor mir. Ich wollte in ihm etwas Besonderes sehen. Die Hörigkeit und die Bewunderung, mit denen ich ihm begegnete, ließen mich früh ahnen, was Inszenierung, die Vortäuschung einer mächtigen Reputation sowie rücksichtslose Arroganz vermochten. Ich wohnte einer Darstellung aller Varianten von Eitelkeit bei, denen ich später im Leben wiederbegegnen sollte. Meinem Vater und meinem Bruder, die den in ihren Augen dünkelhaften und hochnäsigen Menschen nicht ausstehen konnten, kam die Achtung, die ich diesem Herrn Kessel entgegenbrachte, widerlich vor. Für sie steckte hinter dessen anmaßendem Auftreten nichts als Täuschung, Scheinheiligkeit und Härte. Sie zeigten mir zwei ältere Fräulein, die in genau geregeltem Pas de deux auf der Straße vorbeizogen und den Blick, in eineiigem Schmerz, starr auf das Haus richteten, in dem wir wohnten. Sie hatten dieses während der Inflation, wie wir vom Vater erfuhren, dem jetzigen Hausherrn für nichts überlassen müssen, da die verabredete Kaufsumme, wenige Tage nachdem die notarielle Unterschrift geleistet war, ihren Wert verloren hatte. Jeder trichterte uns ein, dass unrecht Gut nicht gedeihe. Aber das war, wie ich hier entdecken konnte, eine einträgliche Lüge. Dem Hausbesitzer kam diese ständige, vorwurfsvolle Präsenz ungehörig vor. Am liebsten hätte er für das Schwesternpaar die Straße sperren lassen. Mit Stolz merkte ich, dass er mich nach und nach beachtete. Ja, er schien mich schließlich zu brauchen. Ich musste unterwürfig seine endlosen Monologe über mich ergehen lassen. Jahre später schlug er mir vor – ich stand damals kurz vor dem Abitur –, mit ihm eine Anthologie von Mondgedichten zusammenzustellen und dazu eine Einführung zu schreiben. Beim Umgang mit diesem Sujet ging es ihm nicht nur um poetische Schwelgerei, sondern um die Befürchtung, dass der Mond wie vieles andere, an das er fest glaubte, bald enträtselt sein würde und damit völlig aus dem metaphysischen Blickfeld verschwinden könnte. Doch als ich kurz darauf damit begann, für Zeitungen zu schreiben und dort spöttische oder kritische Kommentare äußerte oder unbequeme Fragen stellte, kam es zum definitiven, irreparablen Bruch. Ich wurde richtiggehend verflucht und als Gottloser abgestempelt. Natürlich vermachte er mir auch keine seiner Arbeiten von Rudolf Schlichter. Zwei Blätter, die bei Nachbarn gelandet waren, darunter das erregende »Die Zerstörung des Fleisches« konnte ich viele Jahre später im Nebenhaus erstehen.
Etwas Einschneidendes bleibt mit der Erinnerung an diese Kindheit im Elternhaus verbunden. Das reicht in die letzten Monate des Kriegs, in die Nächte zurück, die wir wegen des fast täglichen Fliegeralarms im feuchten, finsteren Keller verbringen mussten. Wir wurden aus den Betten gerissen. Das Heulen der Sirenen, das nicht enden wollende dumpfe Dröhnen in der Luft, das Zittern der Töpfe und Gläser auf den Stellagen unter dem dünnen, gebrechlichen Tonnengewölbe, das auf die Einschläge folgte, nahmen kein Ende. Auch wenn dies alles sich nicht im entferntesten mit dem vergleichen ließ, was in anderen, größeren Städten passierte, ich lernte hier für immer, was Angst bedeutet. Spätestens, als ich kurz nach Kriegsende mit meinem Vater über Stuttgart nach Ludwigsburg fuhr. In Stuttgart war kaum ein Gebäude verschont geblieben. Eine unheimliche Karies hatte alles ergriffen und bis in die Wurzeln befallen. Ein-, zweimal gab es auch direkte Treffer neben und gegenüber unserem Haus. Menschen wurden
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