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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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Datura, auf das gefräßige »Sempervivum«, das, wie er schreibt, niemand auszumerzen vermöge, ja das selbst beim Abkochen am Leben bleibe und sich weiter vermehre. Man konnte es nicht töten, es konnte nicht sterben. Das machte es unheimlich wie ein Phantom. Eine der atemlosesten Stellen des Textes »Le château étoilé« von Breton, den Max Ernst mit nächtlichen, kalzinierten Frottagen illustrierte, hält diese Begegnung fest, deren Bedeutung ich als Kind im verbotenen Garten zu erahnen begann: »Ich bedaure, dass ich so spät diese überempfindlichen Zonen der Erde entdeckt habe.« Lange Zeit hatte ich als kleiner Junge geglaubt, diese harten, steinernen Pflanzen seien als Beweise ewigen Lebens wie Meteoriten auf die Erde, in unseren Garten gefallen. Ich stieß allenthalben auf metaphysische Risse, die mich, ohne dass ich mich dagegen wehren konnte, über meine Sicherheiten stolpern ließen. Sehr früh gewann ich in meinem Lieblingsspiel – oder besser gesagt, in meinem Lieblingsschrecken – die einzig mögliche Gewissheit, die darin bestand, die Unvorstellbarkeit des Daseins zu spüren. Ich fand die Möglichkeit, schrittweise zu dem Punkt zu gelangen, an dem alles mit einem Schlag kippte und unwirklich wurde. Der Schwindel, der mich packte, war jeweils so mächtig, dass alle Fragerei nach Gott, nach Schöpfung unnötig erschien. Derart stark war die Gewissheit der Unmöglichkeit, etwas zu wissen, dass jede Vorstellung von Glaube oder Unglaube verglühen musste. Heute bleibt von diesem unvorstellbar intensiven Erleben noch eine ferne Erinnerung. Denn es ist im Laufe der Jahre immer schwieriger geworden, die Technik wiederzufinden, die mich in diesen Zustand brachte, den ich, ohne mich zu scheuen, Zustand der Gnade nennen muss.
    Allein unter dem Dach der voluminösen Trauerweide, die links vom Haus stand, durften wir uns mit den Eltern am Sonntag zum nachmittäglichen Kaffee niederlassen. Hier waren wir geduldet. Vielleicht auch, weil sich dieser zitternde, von oben bis unten bewimpelte Baum unser erbarmte und wie unter einem Tarnhelm versteckte. Sich unsichtbar zu machen, das war in dieser Zeit der Verdunkelung wohl eine notwendige Kunst. Davon abgesehen duldete uns der Besitzer prinzipiell ungern im Garten, obwohl er diesen selbst so gut wie nie aufsuchte. Allein bei den Nachbarn Grimmer konnten wir uns draußen austoben. Roland, Walter und Wolfgang, der Jüngste, waren reizend zu uns. Bei ihnen fanden wir auch einen Sandkasten mit Schaufeln und Förmchen und Bäume, auf die man klettern durfte. Zwischen beiden Gärten gab es einen direkten Durchgang. Auch andere Nachbarn nahmen uns überaus freundlich auf. Ich durfte auf einem mächtigen braunen Ackerpferd der Familie Neu sitzen, das den Erntewagen von den Feldern in den Hof zog. Außerdem versuchte ich mich im Melken, fütterte die Tiere und nahm begierig an allem Teil. Auch bei den Sailes konnten wir beim Hopfenzupfen mithelfen und bekamen für einen vollen Korb fünf Pfennige und dazu ein gutes Vesper. Der strenge Herr Kessel erklärte, das Verbot, sich in seinem Garten aufzuhalten, diene nur unserem Schutz, da er wegen seiner chronischen Bronchitis leider Gottes gezwungen sei, ständig aus den Fenstern der Wohnung zu spucken. Tatsächlich geschah dies auf freigebige Weise, so dass sich am Sims unter einem der Fenster im Laufe der Jahre ekelerregende Stalaktiten aus Schleim und Auswurf gebildet hatten. Das sind abscheuliche Erinnerungen. Ich empfand Hass und Widerstand gegen diesen Mann, der mich trotz seiner Unmenschlichkeit und Brutalität irgendwie beeindruckte. Seine umfassende Bibliothek, die Vitrinen mit den Sammlungen, die Kleinbronzen, die zahlreichen Hinterglasbilder, Pokale, Antiken aus Gips, die mit Bildern und Zeichnungen bedeckten Wände, all das entwickelte sich im Laufe der Zeit in meiner Erinnerung zu einer winzigen Replik des Weimarer Hauses am Frauenplan. Überall herrschten Symmetrie und eine klassizistische Ordnung. Auf seiner gravitätischen Gestalt saß auch tatsächlich eine Art von silbrigem Löwenkopf, der wie Goethes Haupt sicher über die Welt und über alle Kenntnisse zu verfügen schien. Dazu passten die sinnlich saftigen Lippen, die Seidenschals, die er auch im Sommer umgebunden hatte, und nicht zuletzt die hypochondrischen Gesten, die er gegenüber allen, die ihm begegneten, zeigte. Er schien alles zu wissen. Seine Person stand in meiner Vorstellung für ein wahrhaftigeres und größeres Leben. Er war überaus stolz auf

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