Mein Glueck
den wenigen Dingen, die nicht rationiert waren, die sich ohne Lebensmittelkarten beziehen ließen. Nur hatten wir keine Toten, die wir dort hätten bestatten und besuchen können. Das traf einen inmitten der fabrikmäßigen kollektiven Trauerzeremonien, die dort ständig stattfanden, wie ein Makel. Ich schaute den anderen leicht beunruhigt beim Leben zu, neidete ihnen den Kummer. Die Familie Gugel, die im Haus schräg gegenüber wohnte, verlor drei Söhne innerhalb kürzester Zeit, und das einzige Kind, das ihnen blieb, ein Spielkamerad, der nur katzenähnliche Töne ausstoßen konnte, verschwand eines Tages. Er wurde eines Tages von einem schwarzen Auto abgeholt. Der Tod der Mutter verwandelte diesen Neid plötzlich in eine Wahrheit, von der ich keine Vorstellung haben konnte. Ich durfte mir mit einem Textilabschnitt auf der Lebensmittelkarte im Laden ein breites schwarzes Band kaufen, das mir eine Bekannte um den Ärmel nähte. Ich war stolz auf dieses Zeichen, und ich genoss die Anteilnahme der Nachbarn und all derer, die mich im Ort kannten. Soweit in dieser Zeit, kurz vor Kriegsende, überhaupt noch Trauer möglich war, fiel sie mir jetzt fast ungeteilt und üppig zu. Die Großeltern aus Schramberg reisten in kürzester Zeit dreimal zu einer Beerdigung an. Neben unserer Mutter, der Lieblingstochter Margarete, galt es innerhalb von zwei Wochen die Söhne Hans und Benno unter die Erde zu bringen. Und jedes Mal erschien, begleitet von der zarten Großmutter, der strenge, vor Schmerz tränenlose Großvater mit einer oblongen, oben leicht gewölbten Reisetasche aus dunklem Leder. Der mattglänzende Messingbeschlag wies darauf hin, dass die Tasche auf der oberen Seite geöffnet werden musste. Sie hatte etwas von einem nutzlosen, antiquierten Ordinationskasten. In meiner Erinnerung wurde dieser zum unerbittlichen antiken Vorboten, zur Ankündigung einer beschlossenen mörderischen Aktion. Ich sah in dem zusammengekrumpelten alten Großvater Klöpfer mehr und mehr eine bedrückende Figur, vergleichbar dem Peer-Gynt’schen Knopfgießer, der mich später auf unheimliche Weise beschäftigen sollte.
Unsere Mutter war von einer Güte und Herzlichkeit, die in der Erzählung aller Menschen, die mit ihr zu tun hatten, fortlebte. Einige Fotos, die uns Kinder zusammen mit ihr zeigen, verkünden ein unaussprechliches, für immer verlorenes Glück. Der Abschied von ihr ist mir voller Scham in Erinnerung geblieben. An dem Tage, da sie in die Tübinger Klinik eingewiesen wurde, tobte ich am Ende der Straße auf dem Spielplatz. Und ich war fanatisch dabei. Ein Zirkus baute dort auf einem kleinen Terrain sein Zelt auf. Wir durften mithelfen und uns um die Tiere kümmern, und es kostete mich unendlich viel, mich davon loszureißen und wenigstens kurz nach Hause zu rennen. Nach einer Woche durfte ich sie in der Universitätsklinik besuchen. Ich sehe und spüre immer noch ihre trockenen, wie gespaltenen Lippen und das glühende Gesicht. Die Ärzte hatten sie wegen des ständigen Bombenalarms in einen Raum im nassen Bunker unter dem Krankenhaus verlegt. Das schöne dunkle Haar war als Zopf um den schweißnassen Kopf geflochten. Ihr Lieblingsgericht, ein Birchermüesli, das ihr Freunde mitgebracht hatten, hatte sie stehenlassen, um es mir zu essen zu geben. Denn ich sei, wie mir Geschwister und Freunde neidisch und tröstend wiederholten, stets ihr Liebling gewesen. Mir habe sie alles durchgehen lassen. Immer soll sie meine Unarten mit dem Hinweis entschuldigt haben, ich sei eben voller Einfälle. Und sie nahm mich auch in der Ferienzeit im Schwarzwald bei den Großeltern in Schramberg ständig vor allen anderen in Schutz. Ich spürte dunkel den Beginn meines ausufernden Unglücks. Eine verwirrende Beobachtung hat sich mir bei meinem Besuch in der Klinik eingeprägt. Ich sah nichts anderes als die perfekt gewichsten Reitstiefel, die der Oberarzt, ein SS-Mann, trug. Das glänzende schwarze Leder erschien mir als Abbild einer unzerstörbaren, heilen Welt, und man sah dem Mann seine schockierende, demonstrative Gesundheit an. Er teilte der Familie mit, alles werde wieder gut. Ich glaube nicht, dass er uns dabei irgendwie trösten wollte. Denn Trost überstieg in dieser Zeit jedes Fassungsvermögen. Er sagte dies der Ordnung halber, so als müsse er, um Querulanten loszuwerden, einen Meldezettel ausfüllen. Die Mutter lag in den ersten Tagen, wie ich später von meiner Schwester Elfriede erfuhr, in dem Zimmer, in dem sie vier ihrer fünf
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