Mein Glueck
getötet oder unter Trümmern begraben, und manche blieben verschüttet. Wie versteinert standen wir stundenlang vor dem Schutthaufen, unter dem vielleicht noch jemand lebte. Doch eine Leiche habe ich viele Jahre lang nie zu sehen bekommen. Eine Spur vom Tod fanden wir Kinder eines Tages, als eine alte Frau aus der Nachbarschaft auf einer abschüssigen Straße, die an Theoderich vorbei zum damaligen Hindenburgplatz führte, von einem Auto überfahren wurde. Spuren von Blut und ein beim Abtransport der Leiche übersehenes knorpeliges Stück Vene auf dem Asphalt zeugten vom tödlichen Unfall. Auch bleibt mir unvergesslich, dass die Unheimlichkeit, die ich während der Bombardierungen verspürte, durch die Anwesenheit einer Frau verstärkt wurde, von der und mit der alle nur zu flüstern wagten. Mir wurde bald klar, dass diese über die allgemein spürbare Angst hinaus verängstigt war. Es war Else Eberle, die jüdische Frau von Josef Eberle, dem außergewöhnlichen schwäbischen Mundartdichter, der aus Rottenburg stammte und der nach dem Krieg Herausgeber der Stuttgarter Zeitung wurde. Viele der hinreißenden Gedichte von Sebastian Blau, seinem Pseudonym, kannte ich auswendig und trug sie auf Wunsch gerne der Familie und Freunden vor. In den Versen von »Dr Gsangverei« bezog ich selbstverständlich die Schilderung des Dirigenten, des Herrn »Lehrer«, auf meinen Vater. Das Paar Eberle war bei uns untergebracht. Nach dem Tode ihres Mannes, einem ruppig-schwäbischen Genie, schrieb ich Else Eberle an ihre Adresse auf dem Stuttgarter Frauenkopf und erwähnte in meinem Brief, mit welcher Rührung ich an das gemeinsame schreckliche Warten in den Bombennächten dächte. Die Antwort war eisig, als ob sie auch mir einen Vorwurf für den damaligen Horror machen wollte. »Ich erinnere mich auch lebhaft an die schauerlich-schönen Stunden bei Kessels: immer mit einem Bein im Grab, bestenfalls im KZ.« Ihre Präsenz im Keller war ein Beweis dafür, dass bei uns kein Denunziantentum und keine Sympathie für das Regime herrschten. Ich hoffe, dass dies stimmt. Denn aus zahllosen Berichten und Fotografien, die ich studiert habe, wurde mir klar, dass sich in dieser scheinbar so netten heilen Welt der Horror und der Fanatismus eingenistet hatten. Aus späteren Erzählungen der Schwestern und des Bruders erfuhr ich, dass sie und die Eltern mit Schrecken und Abscheu miterlebt hatten, wie im November 1938 die SS ins bischöfliche Palais eindrang und die Privaträume des Diözesanbischofs Sproll durchsuchte und verwüstete. Dieser muss, im Unterschied zu einem Großteil des Klerus, ein mutiger Mensch gewesen sein. Er hatte nicht zuletzt dem Anschluss Österreichs seine Zustimmung verweigert. Fast der gesamte übrige Klerus hatte sich hinter Hitler gestellt. Der Trupp zündete das Bett des Bischofs an. Vom Kinderzimmer aus hörte man, erinnerten sich die Geschwister, das Getöse, man sah den nächtlichen Feuerschein und musste mit ansehen, wie das brennende Mobiliar aus dem zweiten Stock in den Garten geworfen wurde. Bei der Schilderung dieses Frevels musste ich später an die Szene in Buñuels »L’âge d’or« denken, in der ein Bischof in vollem Ornat aus dem Fenster gestürzt wird. Aber in diese Assoziation war bereits die Lust am Sakrileg eingesickert, die mir durch den Aufenthalt im Konvikt und die späteren Lektüren in Frankreich notwendig und befreiend vorkam.
Dies alles waren Eindrücke, die mir vermittelt wurden und die ich später mit dem verbinden konnte, was ich durch Filme und Bilder kennenlernte. Nur wenige direkte Erlebnisse haben sich in mir festgeschrieben. Die früheste Erinnerung reicht in die Zeit, da ich zweieinhalb Jahre alt war. Ich stand verlassen neben der weißen Wickelkommode. Die ganze Familie kümmerte sich um die winzige Schwester Elisabeth. Wie ausgeschlossen kam ich mir vor. Schwester Annerose sah dies, nahm mich auf den Arm und gab mir einen Keks. Etwas anderes, das nur kurze Zeit später geschehen sein muss, hat sich ebenfalls tief eingeprägt. An der Hand meiner Mutter ging ich über die obere Neckarbrücke und stürzte. Blutüberströmt wurde ich zu Freunden gebracht, die in der Nähe wohnten, und das Gemisch aus Tränen, Blut, Mull, Heftpflaster und einem Rippchen Milchschokolade meine ich noch heute zu schmecken. An diese Freunde der Eltern und ihre Kinder denke ich mit Glück zurück. Eines unserer Lieblingsspiele bestand darin, unter dem Tisch, verdeckt von Decken, ein kleines Lager zu bauen.
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