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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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fürchteten sie wie die Kartoffelkäfer, die wir auf den Feldern einsammeln mussten. Man hatte uns darüber aufgeklärt, dass diese »Schädlinge« von amerikanischen Flugzeugen abgeworfen worden waren. Ich machte in unserer Straße sofort einen Spion ausfindig, der mit einer auffälligen schwarzen Baskenmütze auf dem Kopf die Häuser observierte. Später erfuhr ich, dass der Verdächtige der Organisation Todt angehörte. Wir kamen mit ihm ins Gespräch, und er vertraute uns an, dass die Industrie im geheimen an der Entwicklung eines gigantischen Netzes arbeite, mit dem die feindlichen Bomber am Himmel dann wie kleine Fische eingefangen werden könnten. Die Unruhe hatte alle ergriffen, und auch wir Kinder halfen mit, an den westlichen und nördlichen Einfahrten zur Stadt Panzersperren zu errichten. Auch Kinder blieben damals nicht vom Schrecken verschont. Wir hörten von einem Onkel aus Schramberg, dass im Juli 1943 in Hamburg nach einem der ersten Bombardements der Stadtteil Hammerbrook völlig zerstört wurde und ganze Straßenzüge zugemauert werden mussten, um Epidemien zu verhindern. Roland, der älteste Sohn der Grimmers im Nebenhaus, kam auf kurzen Heimaturlaub von der russischen Front. Als er seiner Familie und uns von seinen Erlebnissen zu erzählen begann, hielt er plötzlich inne und sagte, indem er auf mich zeigte, man solle doch den Kleinen wegschicken. Später erfuhr ich, dass er, wie die meisten seiner Kameraden, Zeuge von unbeschreiblichen Greueltaten geworden war. Und als es eines Tages hieß, der Führer werde auf der Durchfahrt durch unser Städtchen kommen, und alles, Jung und Alt, zum Hindenburgplatz rannte, kam es für mich zu einer unvergessenen Begebenheit. Der freundlich-milde Dompräbendar Eugen Semle, der bald nach Kriegsende für die Politik des katholischen Filmwerks und der Nachrichtenfilme »Zeitschau« und »Spiegel der Zeit« verantwortlich war und der deshalb allenthalben mit nachsichtiger Verachtung der »Filmle« genannt wurde, kam mir auf der Straße entgegen und hielt mich an. Auf die Frage, wohin ich denn so schnell renne, rief ich: »Der Hitler kommt.« Seine Antwort »Wernerle, da brauchst du nicht zu laufen, komm lieber mit mir«, hätte ihn ins Konzentrationslager bringen können.
    Ich selbst bewahre die Erinnerung an ein unerhörtes Gefühl, eine zugleich schreckliche wie auch wohltuende rettende Erinnerung an das, was später alle euphemistisch den »Einmarsch« nannten. Am allerletzten Kriegstag in unserem Städtchen, am 20. April, saßen wir in einem großen finsteren Stollen, der gegenüber unserem Haus tief in den Hügel hinter dem Kloster St. Klara hineingetrieben worden war. Der Feind, hieß es, stünde schon mit vielen Panzern vor Seebronn und Remmingsheim. Die Schwestern trugen zerrissene Kleider und Kopftücher, die das blonde Haar versteckten und sie möglichst alt wirken ließen. Alles hatte vorab davon gehört, wie brutal die Besatzungstruppen mit der Bevölkerung, vor allem mit den Frauen, umgingen. Die Menschen zitterten vor Angst, die Frauen und Kinder weinten. Mein Vater holte eine Mappe hervor, in der er seine persönlichen Papiere aufbewahrte. Aus ihr zog er ein Foto des Führers heraus, wobei er sagte: »Dem haben wir das alles zu verdanken.« Ein Aufschrei und ein beklemmendes Schweigen waren die Reaktion. Niemand gab einen Ton von sich. Alle wussten, dass es Denunzianten gab, die dafür sorgten, dass so etwas auch in den letzten Minuten des Krieges mit dem Tode bestraft werden konnte. Doch dieser Satz fiel mehr oder weniger mit dem Ende zusammen. Französische Soldaten stürmten wenige Minuten später mit vorgehaltenen Maschinengewehren den Bunker. Es waren dunkelhäutige Männer, die uns Kleinen bald lächelnd ihre weißen Zähne zeigten. Wir konnten nicht wissen, dass Franzosen schwarz sind.
    Unsere Wohnung mit den Madonnen und Schutzengelbildern, mit dem gestickten Frieden und den Sammeltassen in den Vitrinen und einer versilberten Kaffeemaschine, die die Familie für den Tag reservierte, da unser Onkel, der Missionar, aus Afrika zurückkehren würde, bot nichts, was zum infernalischen Lärm der Bombennächte und zu dieser absolut angsterfüllten Stimmung gepasst hätte. Doch in der Etage unter uns, bei der Patentante Klara Kessel, hingen die Wände voll mit Kunstwerken, die das, was ich als Kind dunkel spürte und mitbekam, auf beängstigende Weise illustrierten. Es waren Gemälde, Zeichnungen und Aquarelle von Rudolf Schlichter. Der Künstler,

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