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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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Freund von Karl Hubbuch, George Grosz und Otto Dix, hatte mit seiner Frau in den dreißiger Jahren einige Zeit in Rottenburg verbracht. Während dieser Zeit hatte er sich offensichtlich mit unserem Hausgoethe angefreundet. Das blutige Aquarell »Die Zerstörung des Fleisches«, mit seinen abgeschnittenen Köpfen, eschatologischen Szenen und babylonischen Verwüstungen, zeigte eine unheimliche Welt, deren Realität sich jede Nacht erneut mit bösen und gefährlichen Geräuschen ankündigte. Diese beklemmende Stimmung in den parallelen Welten von Kunst und Wirklichkeit machte mich sicher für die terroristische Seite des Surrealismus empfänglich. Ich sehe dies alles noch deutlich vor mir und spüre wie einen Nachhall den unerklärlichen Griff der Bilder in mein damaliges Leben. Es waren, wenn ich es von heute aus betrachte, junge, altkluge Körper, die die Laszivität verdorbenen Fleisches vorführten. Ein Kind ist vor der Pubertät am besten in der Lage, im Verschwiegenen, Verbotenen wie in einer Goldader herumzukratzen und das zu finden, was man ihm vorenthalten möchte. Die Stiefel, das Leder, die Liturgien, die mit Schlichter und seiner verruchten Frau Speedy vorübergehend in Rottenburg einzogen, mussten die Bischofsstadt sehr beschäftigt und verwirrt haben. Auch später tuschelten Nachbarn noch von dieser fleischgewordenen Gegenwart der Sünde. Speedy mit ihrem spitzen, zum Schnappen bereiten Mund, der auf den wenigen Fotos, die in der Etage unter uns hingen, zu sehen war und auf beispiellose Weise provozierte, hat in der »Thymian« von Louise Brooks aus G.W. Pabsts »Tagebuch einer Verlorenen« einen hinreißenden Widerpart. Mit welcher Genugtuung entdeckte ich später diesen Film, den ich als Direktübertragung meiner Phantasmen erlebte. Die Zeichnungen Schlichters im Hause zeigten »die unter Kleidern geschlechtdurchröntgte Hure«, wie es Carl Einstein zu Arbeiten von George Grosz formulierte.
    Es ist sonnenklar, dass ich dieses Wort Hure, das nach dem Kriege zum ersten Mal fiel, auf eine Frau bezog, für die in unserem Haus im Dachgeschoss ein Zimmer requiriert worden war. Ich bekam mit, dass die Herrenbesuche, die sie dort ab und zu empfing, von einem Charakter waren, über den niemand sprechen wollte. Der Weg über die dunkle, braungebeizte Treppe zu der obersten Etage, auf der ich selbst ein Zimmerchen hatte, wird in der Erinnerung zu so etwas wie einer verfehlten, verpassten Initiation. Raschelnde Kleider, deren Geräusch in längerem oder kürzerem Abstand ans Ohr drang, Stoffe, die sich schneller oder langsamer aneinanderrieben und dabei das Register von hellen zu erstickten Tönen durchmaßen – das alles drang bis zu mir vor. Diese Geräusche steigerten meine Gefühle, bis die damit verbundene Anstrengung einem stechenden und vielleicht gefährlichen Schmerz Platz machte. Denn Sex, Körper, das hieß Sünde. Davon redete zu Hause und in der Schule nie jemand, allenfalls einen Blinddarm konnte man erwähnen. Dieser blieb physiologisch und moralisch gewissermaßen extraterritorial.
    Ich habe meinen Vater nie nackt gesehen. Nur in seinen letzten Tagen, als er todkrank, an einer Lungenentzündung erstickend, im Krankenhaus die Decke abschüttelte. Auch meine Schwestern gehörten immer zur kunstgeschichtlichen Kategorie der »weiblichen Halbfiguren«. Das Schamgefühl, das bei uns auf die unbegreiflichste Weise genährt wurde, machte jeden Gedanken, jeden Blick, von Berührungen ganz zu schweigen, zur schweren, tödlichen Sünde. Hanekes Film »Das weiße Band«, diese »deutsche Kindergeschichte«, die den Terror der Familie schildert, scheint mir im Vergleich zu dem, was ich zu unterdrücken oder zu verdrängen hatte, beinahe unwirklich und idyllisch. Wir Kinder tauschten uns in der Familie nie darüber aus. So etwas wie sexuelle Aufklärung kannte niemand von uns. Offensichtlich war die Weggentalstraße ein Hort der Parthenogenese. Im nachhinein erfuhr ich auch von der Schwester, dass die Mutter unaufgeklärt in die Ehe geschickt worden war und ihr aus dieser bösen Erfahrung heraus den Rat gegeben hatte, erst gar nicht zu heiraten. Dabei entnehme ich dem Kriegstagebuch meines Vaters an der Westfront, dass er im vierten Kriegsjahr im Schützengraben neben Büchern wie Gibt es ein Fortleben nach dem Tode? auch Schriften wie Was muss der Mann vor der Ehe von der Ehe wissen und Was müssen junge Mädchen vor der Ehe wissen studiert hatte.

    Ich besorgte mir die ersten Informationen in Meyers

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