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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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Dieser Rückzug in das uterine Dunkel war sicherlich ein Versuch, die Angst im Bombenkeller zu exorzieren.
    Ein anderer Vorfall führte zu einer beschämenden Bestrafung. Einer Frau Ganser, die ich einfach nicht mochte, rief ich auf der Straße nach dem sonntäglichen Gottesdienst im Dom »Ganserin« hinterher. Sie erschien kurz danach mit ihrem Sohn in unserer Wohnung und berichtete alles den empörten Eltern. Ich hatte um Pardon zu bitten, wurde vom Mittagessen, den ganzen Tag über vom Spielen ausgeschlossen und musste zudem meine wertvollste Kostbarkeit, die dicke gefüllte Waffel, die ich kurz zuvor geschenkt bekommen hatte, zur Sühne dem kleinen Jungen schenken.
    Fotos aus dieser Zeit gibt es nur wenige. Auf einer Aufnahme, die anlässlich des Treffens der Vierzigjährigen im Jahr 1938 gemacht wurde und die über hundert Männer und Frauen zeigt, trägt niemand eine Uniform. Strikt mit Krawatte, mit langärmeligen Blusen und Faltenröcken, die weit übers Knie hinabreichen, sitzen die Jahrgangsgefährten und -gefährtinnen zusammen. Was einen wundert, ist, dass Vierzigjährige damals so alt wirkten. Zu jener Zeit mussten die Mädchen weite blaue Röcke tragen, die über die Knie hinabreichten, damit sie sich darunter im Winter warm anziehen konnten. Blusen mit Rüschen und Fältchen wurden toleriert und, wie ich bei Schwester Elfriede entdeckte, mächtige Schleifen, die wie Riesenschmetterlinge im Haar steckten. Die Jungen trugen in der Nazizeit weiße Hemden, deren Ärmel sich im Sommer aufkrempeln ließen, dazu schwarze kurze Hosen, einen schwarzen Schlips mit ledernem Knoten und Armbinden mit dem Hakenkreuz. Alles sah auf diesen Fotos so friedlich, harmlos und wohlerzogen aus. Als Lehrer war der Vater Parteimitglied. Doch seine Funktion erschöpfte sich darin, bei der Sammlung fürs Winterhilfswerk mitzuwirken. Und als Dirigent des Rottenburger Liederkranzes soll er auf das neue, nazistische »Sangesgut« verzichtet haben. Der Liederkranz wurde, so erfuhr ich, daraufhin ziemlich bald aufgelöst. Auch habe der Vater den Umzug in ein eigenes Haus abgelehnt, das ihm die Partei angeboten hatte. Obwohl die Familie zu diesem Zeitpunkt in beengten finanziellen Verhältnissen in einer kleinen Mietwohnung lebte, habe er sich nicht vom Regime abhängig machen wollen. Mein Vater hat über diese Zeit nie mit mir gesprochen. Genaueres war auch sonst nicht zu erfahren. Danach zu fragen galt als unanständig. Es ging mir in diesem Punkt nicht anders als allen Kameraden, mit denen ich verkehrte. Doch hatten wir Lehrer, die ihre Unterrichtsstunde gerne abkürzten, um von ihrer Zeit beim Afrikakorps, vom aufopfernden Mut und von Rommel zu schwärmen. Durch ihre Berichte von einem heroischen, sauberen Krieg versuchten sie anderes zu verdrängen. Oder sie stilisierten sich als Opfer und berichteten Horrorgeschichten von der Ostfront, die uns zeigen sollten, dass der Bolschewismus ein rechtmäßiger Anlass für den Krieg gewesen sei.
    In den letzten Tagen des Krieges, kurz bevor die französischen Truppen die Stadt einnahmen, wurde der Vater zum Volkssturm eingezogen. Er musste einen Trupp ganz junger und alter Menschen, die im letzten Moment für den Endkampf mobilisiert wurden, Richtung Front führen. Diese verlief vor der Haustüre, in Ergenzingen bei Horb. Wir hörten die Explosionen. In Remmingsheim, wurde mir später erzählt, habe der Vater zu seinen Leuten gesagt, sie sollten jetzt allein weitergehen oder machen, was sie wollten, er müsse nach Hause zu seinen fünf Kindern, die keine Mutter mehr hatten. Es war ihm sicherlich bewusst, dass er damit sein Leben riskierte, denn das war Wehrdienstverweigerung und Aufruf zur Fahnenflucht. Auch erinnere ich mich, dass meine Mutter, in den Tagen ehe sie ins Krankenhaus gebracht wurde, meinen älteren Bruder nur schwer davon abbringen konnte, mit Pistole und Munition, die er vor dem Haus im ausgetrockneten Weggentalbach aufgelesen hatte, in den Kampf zu ziehen. Nachbarn stellten in diesem Moment, in dem alle vom Endsieg fabulierten, meine Mutter zur Rede. Dass sie nicht denunziert wurde, war ein Wunder oder Zeichen einer allgemeinen Lethargie in diesen letzten Tagen des Krieges.
    Schon zuvor hatte ich gespürt, dass etwas Unerhörtes und Gefährliches im Gange war. Es war für uns Kinder ein aufregendes Spektakel, das uns eigentlich keine Angst einjagte. Ich bemühte mich wie alle anderen Altersgenossen, Spione zu entdecken. Vor ihnen waren wir in der Schule gewarnt worden. Wir

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