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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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sechzehnbändigem Konversationslexikon, durchaus im Bewusstsein, etwas Sündiges zu tun. Was blieb mir anderes übrig, als dies zu beichten? Ich kannte einen Franziskanerpater im Kloster Weggental, der ab und zu in seiner dumpf riechenden braunen Kutte vor mir saß und mir Nachhilfe in Latein gab. Er war eng befreundet mit meinem Vater. Beide gingen häufig zusammen spazieren und führten, soweit ich dies mitbekam, philosophische und theologische Gespräche. Ihm gestand ich in der widerlich abgestandenen Luft des Beichtstuhls, durch das Sprechgitter flüsternd, dass mir zu Hause im verschlossenen Bücherschrank meines Vaters im Herrenzimmer unkeusche Bücher in die Hände gefallen seien und ich in ihnen gelesen hätte. Was der Pater darüber dachte und ob dies der Freundschaft mit dem Vater geschadet hat, blieb mir verborgen. Ich konnte bei all der Geheimniskrämerei auch nicht wissen, wie die anderen unter dieser irrsinnigen Scheu litten. Erst viel später wagte meine Schwester Elfriede, die sich auf das einfühlsamste um mich sorgte und kümmerte, etwas von ihrem eigenen Unglück zu enthüllen. Sie schrieb mir, wir seien alle dazu erzogen worden, Gefühle nicht zu zeigen, sondern sie zu unterdrücken. Das hatte ich wohl gelernt. Halbe Nächte lag ich, nach dem Tode der Mutter, im Bett und weinte, und niemand kam, um mich zu trösten. Zu Lebzeiten meiner Mutter hatte sich die ganze Familie um mein Bett versammelt, als ich während einer gefährlichen Lungenentzündung in hohem Fieber phantasierte. Alles in mir verwandelte sich in einen grauenvollen mehligen Brei, der Körper, der Mund fühlten sich pelzig an. Es kam mir vor, als beiße ich in eine eingeschlafene Welt. Ich wurde in der unendlichen Leere hin und her geschleudert, sah fürchterliche Bilder vor mir, Wesen, die so vehement nach mir zu greifen schienen, dass ich in Ohnmacht fiel. Und noch heute erfasst mich die Angst, wenn ich Meret Oppenheims »Pelztasse« vor mir sehe und mir vorstelle, aus ihr trinken zu müssen. Jedes Mal verwandelt sich diese Tasse vor meinen Augen in eines meiner abstoßenden Lieblingsbilder, Thomas Coles »Pokal des Riesen«, in dem Schiffe hin und her fahren, der die ganze Welt mit Tempeln und Wäldern enthält und den ein Gigant mit einem Schluck leeren könnte. Es ist nicht leicht, ein solches Defizit an Liebe in der Kindheit loszuwerden. Da half auch das Jammern des Vaters nichts, der dann und wann meinte, es sei besser, der Vater stürbe und die Mutter könne weiterhin bei den Kindern bleiben. Wenn ich es schließlich schaffte und diesen Zustand der Lieblosigkeit überwand, dann dank Monique, die 1961 auf einer Studentenreise in Korsika in mein Leben trat und dieses mit ihrem Charme, ihrer Intelligenz und Güte bis heute in den letzten Winkel erleuchtet.
    Doch Heimlichkeiten und Verbotenes, vor dem uns der Religionslehrer Angst einjagte, animierten dazu, in der Kirche mit bisher unbekannter wollüstiger Genauigkeit die herrlichen Rundungen zu verfolgen, die sich so nahe, griffbereit unter den gestrickten blauen Bleyle-Kleidern auf der Bank vor dem Knienden abzeichneten. Ich suchte zu errechnen und mir vorzustellen, wie viel Fleisch in dieser Sekunde auf der Welt an den Körpern wachse. Dies führte zu ersten Qualen, die es ständig zu beichten galt. Eines Tages erspähte ich abends beim Gang durch die Stadt hinter einem erleuchteten Fenster etwas nie Gesehenes, den schönsten lilienweißen Popo. Die Form und das Weiß verfolgten mich. Ich fand sie wieder bei der Erstkommunion, als mir die runde Hostie gereicht wurde. Diese behielt ich so lange wie möglich im Mund, wobei ich mir in meiner Erregung auf die Zunge biss und auf einmal spürte, was uns verheißen war, die Transsubstantiation in Fleisch und Blut. Viel später erst lieferten mir die unerhörten und schamlos offenen und ehrlichen Bücher von Schlichter, Das widerspenstige Fleisch und Tönerne Füße , grausame, schimpfliche Beschreibungen der prüden Heimat. Denn vieles von dem Groben, das Schlichter aus seiner und Hermann Hesses Geburtsstadt Calw beschrieb, konnte auch für Rottenburg gelten. Sie enttarnten die Heuchelei, die in dieser frömmelnden Gegend das üble Gewissen überdeckte. Und dieses schlechte Gewissen, das plagte eher uns als diejenigen, die voll und hemmungslos über andere Körper verfügten. Sexuelle Aufklärung schien verstörender und unheimlicher als die Auskunft über das, was, vor uns verborgen, an Horror in der jüngsten Geschichte geschehen

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