Mein Glueck
war. Es bleibt mir unvergessen, wie der Sohn der Bauernfamilie Neu, die zwei Häuser neben uns wohnte, eines Tages ein illustriertes Heft aus der Tasche zog. Wir saßen mit Kühen und Schweinen auf einem Feld hinter dem Hof. Auf den Fotografien, die bei der Befreiung der Konzentrationslager gemacht worden waren, sah man Leichenberge. Niemand hatte uns zuvor davon erzählt. Es war Aufklärung, verbunden mit unendlicher Scham. Und dieses tiefe und widerwärtige Schuldgefühl überfiel mich von dieser Stunde an für immer. Auch zu Hause fehlte der Mut nachzufragen, um mehr über diese grauenvolle Vergangenheit, die bis heute gegenwärtig ist, zu erfahren. Niemand sagte uns, dass es in allernächster Nähe von Rottenburg, bei Hailfingen, ein KZ-Außenlager gab, in dem Hunderte von jüdischen Häftlingen aus ganz Europa zusammengepfercht waren und umkamen. Es war völlig normal, zu dem nur neun Kilometer entfernten Ort Spaziergänge zu machen. Die Mutter des Spielkameraden war aus dem Haus getreten, lächelte uns zu. Ihr gefiel offensichtlich unsere Freundschaft. In einem Beutel hatte sie vier weiße Tauben mitgebracht. Nur wenige Meter von uns, am Misthaufen, schnitt sie ihnen in völliger Ruhe mit dem Messer die Köpfe ab. Und später, bei einem Onkel in Oberschwaben, in Sigmarshofen, das zur Gemeinde Grünkraut in der Nähe von Ravensburg gehört, nahm mich eine schöne, rotblonde Cousine, die älter war als ich, mit in den Schweinestall und führte einigermaßen stolz vor, wie behend und schmerzlos sie junge Ferkel kastrieren konnte. Die Hoden warf sie der schmatzenden Muttersau in den Koben.
Die ersten Jahre in der Volksschule und die sich anschließenden vier weiteren Jahre auf dem Progymnasium verbrachte ich in der Heimatstadt. Der Beginn der Schulzeit reicht noch in den Krieg, ins Jahr 1943 zurück. Oft fiel der Unterricht aus. Immer häufiger hatten wir es mit Vertretungen zu tun. Der Gang zur Schule führte über die mittlere Brücke in den Stadtteil Ehingen. In den Klassen waltete ein furchterregend strenges Kommando. Zwischen der Zeit, da noch Krieg herrschte, und der Nachkriegszeit konnte ich kaum einen Unterschied im Umgang mit uns Kindern feststellen. Es gab eine offensichtlich unangefochtene und unanfechtbare pädagogische Kontinuität. Die Lehrer oder Lehrerinnen prügelten, verteilten Tatzen. Es waren frustrierte Menschen, die sich für ihr eigenes verlorenes Leben an uns zu rächen suchten. Einer machte dies auf methodisch böse Weise, er setzte seinen ganzen Ehrgeiz daran, dass das Meerrohr auf der offenen Hand nahe an den Fingerkuppen einschlug. Und Rudolf Balz, der »Beli«, der Biologie unterrichtete, zeichnete sich dadurch aus, dass er zu Beginn des Unterrichts die Buben, deren Gesichter ihm an diesem Tag nicht gefielen, einfach grundlos mit einem Stock verprügelte. Klimax der Bestrafung war der Hosenspanner, der dem Exekutor ein keuchendes Lustbeben bescherte. Das Schlimme war, dass keiner von uns an so etwas wie Protest oder Gegenwehr denken konnte. Bei niemandem hätte man sich beschweren können. Irgendwie waren diese demütigenden Strafen Teil dessen, was uns von oben beschieden war. Erst im nachhinein verstand ich, was manche dieser Prügler trieb, es waren Sadisten, vielleicht auch verschreckte Pädophile, von deren Subtilitäten wir damals wirklich nichts wissen konnten. Nur das Schnauben, die nie erlebte Erregung, mit der sie plötzlich aus ihrer Haut fuhren, legt im nachhinein eine böse Spur. Auf alle Fälle kam es zu Szenen, die ich später bei der Lektüre dessen, was Kafkas Prügler im Prozeß in der Rumpelkammer veranstalten, wiederfinden konnte. Dies waren alles andere als glückliche Jahre. Und es brauchte lange, ehe sich 1968 eine Generation, zu der ich schon nicht mehr gehörte, gegen die Welt der Väter und gegen die Gewalt des schlechten Gewissens aufzulehnen begann. Dieser Aufstand gegen die Autorität kam für uns zu spät. Wir waren bereits durch Gehorsam und Erniedrigung verdorben. Uns blieb die Bitterkeit des Zuschauers, der plötzlich die unerhörte Verspätung sah, deren Opfer er geworden war. In der Schule und auch im Progymnasium konnten mich die Kameraden überhaupt nicht leiden. Sicher auch, weil ich vorlaut war und manches besserwissen wollte oder besserwusste. So war ich der einzige in der Klasse, der dem Lehrer zu sagen vermochte, was das Wort »nippen« bedeutet. Es war im übrigen die Beschreibung eines Genusses, mit dem kaum einer etwas anzufangen wusste.
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