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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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Gegen die physische Übermacht, die die anderen ausübten, konnte ich mich nicht groß wehren. Ich zog mich deshalb gerne auf meinen Status als Schwächling zurück. Das einzige, was mir auf dem Schulhof vorübergehend ein wenig Frieden verschaffte, war meine Schnelligkeit im Kopfrechnen. Während der Pausen konnte ich immer erneut meine Fertigkeit demonstrieren, auch hohe Zahlen zu multiplizieren. Fast alles, was die anderen freute, war mir verhasst. Dazu gehörte jede Form von Sport und vor allem das Geräteturnen. Ich konnte kein Seil hochklettern und klatschte beim Sprung über den Bock zur Freude aller regelmäßig auf das Turngerät. Bereits beim Anlauf riss es mir die Füße weg. Mir schien dies alles vulgär, und ich zeigte auch offen meine Verachtung. Zum Glück musste ich an den Wettbewerben mit Schulsport zumeist nicht teilnehmen. Ich verfügte über eine schöne Handschrift und durfte mit Feder und glänzendschwarzer Tusche die Urkunden für die Preise und Siegerehrungen ausstellen. Es gab einen gleichaltrigen Jungen, Martin Mattes, mit dem ich mich ausnehmend gut verstand und der mich vor anderen in Schutz nahm und verteidigte. Zusammen verbrachten wir viele Stunden über den Geschäftsräumen seiner Eltern. Wir hatten uns Chemikalien besorgt und experimentierten mit Reagenzgläsern und Bunsenbrenner. Wir taten dies ohne jede Anleitung, aber immer in prickelnder Bangigkeit vor einer unvorhergesehenen Explosion. Das Geschäft verkaufte Stoffe, Hemden, Kleider und Anzüge. Dazu brauchte es zunächst noch Karten und Bons. Das Eindringen des Neuen, des Konsums vollzog sich sehr langsam. Erst die Währungsreform brachte an den Tag, was zuvor in den Läden gehortet worden war. An Vergnügungen gab es in unserer kleinen Stadt nichts. Spielen auf der Straße war das Höchste. Ab und zu unternahmen wir mit der Klasse im Biologieunterricht eine Exkursion in die nähere Umgebung, um Pflanzen und Tiere zu beobachten. Auch der Geschichtslehrer, der davon besessen war, in der Gegend um Sumelocenna Spuren römischen Lebens zu entdecken, nahm uns auf überaus frustrierende Expeditionen mit, bei denen nichts Auffälliges zu finden war. Gerne hätte er dem römischen Stadtmuseum neben »der größten römischen Prachtlatrine nördlich der Alpen mit einer Länge von 32 Metern« noch weitere Schmuckstücke gegönnt. Das brachte mich darauf, eines Tages auf eine Topfscherbe die Nummer einer römischen Legion einzugravieren, sie mit Rauch zu schwärzen und einzugraben. Sie wurde hervorgeholt, und der Lehrer Wyrwich war selig, dass seine Vermutung sich bestätigte. Einer verpetzte mich und störte das große Glück. Zu den ganz besonderen Ereignissen gehörte ein Besuch im örtlichen Kino am Rathausplatz. Dort sahen wir begeistert »Quax der Bruchpilot« mit Heinz Rühmann. Ich weiß nicht mehr, ob das noch vor Kriegsende oder kurz danach war. Auf alle Fälle war mir der Film nachträglich, als ich mir eine Kassette besorgte, um die frühere Erregung wiederzufinden, absolut unerträglich. Ich konnte Rühmann auch sonst nicht ausstehen. Das erneute Erleben geriet zu einer peinlichen Lehre im Umgang mit früheren Superlativen und Emotionen. Um jeden Gegenstand, der damals im Haushalt hinzukam, der die Erscheinung eines bekannten Körpers veränderte, lag eine Art von Aura, die einen lange beschäftigte. So hatte ich etwa den Eindruck, dass die ganze Stadt meine neuen Schuhe entdeckte und bewunderte. Es war diese Dosierung des Seltenen, die, wie ich später sehen konnte, das ganze System von Duchamp zusammenhielt. Der Kult des Neuen, Glänzenden begann hier. Gegenüber stand ihm auf den Müllhalden das Riesenangebot einer zerborstenen Welt, in deren Gerüchen, unheimlichem Aspik aus zerfallenden Substanzen und korrodierenden Giften wir stundenlang wühlten. Eine Unmenge an Verkohltem, an Schutt, zerrissenen Tüchern, Büchern und Druckschriften, an zerbrochenen Waffen, Blindgängern hatte sich vor der Stadt aufgehäuft. Immerhin machte mich die Entdeckung des Fragmentarischen, des Lädierten und Lückenhaften auf viele Details aufmerksam. Hier entstand das Gespür für eine neuartige Kategorie des Interessanten, auf das ich später im Umgang mit Assemblagen, mit den Karambolagen des Nichts, die Tinguely mit Kaputtem erzeugte, zurückgreifen konnte. In unserer Wohnung, die in der Besatzungszeit vorübergehend von einem französischen Major requiriert worden war, war alles in bester Ordnung geblieben. Wir waren in der Zwischenzeit

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