Mein Glueck
unserer Ankunft unsichtbar machen. Unaufhörlich steigerte ich mich in diesen Glauben hinein. Und mein Vater hat diese gefährliche Tendenz, den Wahn an die Stelle der Realität treten zu lassen, keinesfalls bekämpft. Die Vorstellung vom Leben in der Höhle hat nichts von ihrem klaustrophobischen Schrecken verloren. Ein doppeldeutiger dunkler Zauber geht von diesen Orten aus, die ich auch heute nur mit leichtem Grausen ertragen kann. Wie leere Vasen kommen mir die Höhlen vor, in denen nach und nach frühere Leben verblühen. So erlebte ich auch den Abstieg in die Höhle der Höhlen, den Besuch von Lascaux, als unwiderstehlichen Aufruf zur Verängstigung. Philippe Sollers, der gleichfalls zu den wenigen Privilegierten gehörte, die diesen Ort besuchen durften, der vor langen Jahren definitiv für das Publikum geschlossen wurde, beschrieb den »son énorme«, den er in der Tiefe hörte. Es ist der gewaltige Dauerton der Zeit, auf den man dort unten stößt und den man nicht mehr aus den Ohren bekommt.
Ich erinnere mich an einen Tag, an dem wir in der Schule einen Aufsatz schreiben mussten. Es war wenige Wochen nach dem Tod der Mutter. Ich gab als erster mein Blatt ab und brach weinend zusammen. Einen Satz nur hatte ich aufs Papier bringen können. In ihm erbat ich die baldige Rückkehr der heißgeliebten Mutter. Der Glaube daran war so mächtig wie in Carl Theodor Dreyers »Ordet« (»Das Wort«), in Joseph L. Mankiewicz’ »The Ghost and Mrs. Muir« (»Ein Gespenst auf Freiersfüßen«) oder in Henry Hathaways »Peter Ibbetson«, einem Film, der in den Augen André Bretons und der Surrealisten jede Vorstellung von Auferstehung und Wunder überflügelte. Ich wollte das, was geschehen war, nicht akzeptieren, und ich kann sicherlich auf diesen Tag, an dem ich meinen Unglauben an den Tod öffentlich bekannte, die ständige Flucht in eine Irrealität datieren, aus der ich mich herausreißen lassen musste. Die Spuren davon kann ich präzise verfolgen. Nicht von ungefähr begann mein Tagebuch »Aufzeichnungen während meiner Konviktszeit in Rottweil« am 22. März 1954 , zu Beginn der Woche vor dem vierten Fastensonntag »Laetare«, mit der Erinnerung an den neunten Todestag der Mutter.
Unsere Familie wurde mit Hilfe der einen oder anderen Aushilfe im Haushalt mühsam versorgt und durchgebracht. Doch im Umgang mit diesen fremden Frauen, die uns herzlos und sachlich vorkamen, keimte in unserer Familie eine Feindseligkeit auf, die keines von uns fünf Kindern zuvor gespürt hatte. Mein Vater suchte nach einem Ausweg. Es war eine Lösung, die meine älteren Geschwister, das spürte ich, zutiefst bedrückte. Am Beginn der Weggentalstraße, auf der rechten Seite, waren ständig zwei Damen am Fenster zu sehen. Die Schwestern Lohmüller hatten nichts anderes zu tun, als uns zu beobachten. Die eine war dürr und die andere gut genährt. Mich suchte die dickere wie Kalypso einzufangen. Das tat sie mit Süßigkeiten. Und mein Vater begann ernsthaft darüber nachzudenken, ob er einer der beiden nicht einen Heiratsantrag machen sollte. Er entschloss sich schließlich in einer Zeit, in der alles nur auf Lebensmittelkarten bezogen werden konnte, für die wohlgenährte Version. Sie erschien ihm, wie ich damals spöttisch überall erzählte, als bessere Garantie gegen den Hunger. Meine größeren Schwestern waren erbost über die Wahl des Vaters, erinnerten sie sich doch genau, dass die Mutter, die die gütigste Frau der Welt gewesen war und sich mit allen Menschen gut verstanden hatte, in der Stadt nur einer Person, Anna Lohmüller, zutiefst misstraut hatte. Nach der Heirat begann für mich, für uns alle, auch für den Vater, die Hölle. Es waren für mich unerträgliche Jahre. Sicher steigerte ich mich in diesen Hass auch hinein, vielleicht weil ich damals eine ungeheure Imagination des Desasters zu entwickeln begann. Ich hatte mich über die Stiefmutter, zu der wir Mutter sagen mussten, von Anfang an lustig gemacht. Die Geschwister taten nichts, um mich davon abzubringen. Ich habe auch später nie verstanden, warum sie in ihrem Alter den Befehl, zu dieser Frau Mutter zu sagen, befolgten. Vielleicht wollten sie dem Vater nicht noch zusätzliche Scherereien machen. Sie tat alles, um mich auf jede erdenkliche Weise herabzuwürdigen und sich an mir für meine Frechheiten zu rächen. Zumindest erwarb ich auf diese Weise nach und nach eine Abneigung und Feindseligkeit, die mir guten Gewissens den Weg zu einer wahrhaft hysterischen
Weitere Kostenlose Bücher