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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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Interpretation jeder Geste, jeden Blicks öffneten. Schon in den ersten Tagen beschloss sie, mich abzurichten. Sie forderte mich auf: »Komm mit in den Keller. Du kannst mir da beim Aufräumen helfen.« Es war ein Ort der Angst, in den ich, um mir Mut zu machen, allein nur mit lautem, den Herzschlag übertönendem Singen hinabsteigen konnte. Unten angekommen, an der Stelle, wo wir während des Bombenalarms zitternd gesessen hatten, packte sie mich und hieb auf wilde und erniedrigende Art auf mich ein. Niemand konnte meine Schreie hören. Schwer atmend setzte sie hinzu, nun werde ich sicher nie mehr vergessen, wer hier das Sagen habe. Weder Vater noch Geschwistern wagte ich davon zu erzählen. Anna Lohmüllers ganzer Stolz bestand darin, aus der Familie eines Notars zu stammen. Sie fühlte sich der »haute volée« zugehörig, wie man seit der »Franzosenzeit« die feine Gesellschaft in der Region zu nennen pflegte. Aus diesem Grund trug sie auch nicht einfach ein rotes Kleid. Sie korrigierte uns alle: Die Farbe der schweren Seide sei nicht Rot, sondern man sage dazu Bordeaux. Die Garderobe, die sie mitgebracht hatte, verriet, dass sie offensichtlich einiges investiert und unternommen hatte, um einen Mann einzufangen. Auch ihre Meinungen und Urteile schockierten uns. Sicher, sie war keineswegs das, was man antisemitisch nennen konnte, aber wenn sie auf das eine oder andere Dorf um Rottenburg zu sprechen kam, in dem früher viele Juden lebten, fielen Worte, die bestürzten. Dahinter steckte wohl das Wissen der Notarstochter, die während des Kriegs die großen Veränderungen im Kataster mitbekommen hatte. Es gab so gut wie keinen Moment in dieser Zeit, auf den ich mit einem Glücksgefühl oder gar mit Dankbarkeit zurückblicken könnte. Dabei kam es zu unendlich komischen und lächerlichen Auftritten der Frau, wie wenn sie dem Vater auf seinem Weg zur Schule mit einer Kleiderbürste auf der Straße hinterhersprang, um das letzte Stäubchen von Anzug oder Mantel zu entfernen. Mein Vater war dem hilflos ausgeliefert, musste seinen Zorn, zu dem ihn diese Demütigung reizte, zurückhalten. Er lüftete, höflich nach links oder rechts grüßend, den Hut. Auch richtete sie vor allen Schulkameraden die Frage an mich, ob ich meine Unterwäsche gewechselt hätte. Denn wenn mir etwas zustieß und ich ins Krankenhaus müsste, sei es doch das Wichtigste, dass ich wenigstens einen sauberen, gepflegten Eindruck machte. Sonst sei sie blamiert. Im Unterschied zu allen anderen in der Klasse besaß ich keine langen Hosen. Ich musste kratzende wollene Strümpfe tragen, die mit Strapsen an einem Strumpfhalter befestigt waren. Nichts konnte erniedrigender sein, als sich mit Laufmaschen und mit dem ständigen Rutschen der Strümpfe herumzuschlagen. Und auch als ich endlich den ersten Anzug verpasst bekommen sollte, wandte sich die Stiefmutter an einen billigen Dorfschneider in Bad Niedernau. Zu ihm machten wir uns dem Neckar nach zu Fuß auf den langen Weg. Der Schneider schnitt aus einem von uns mitgebrachten, grauen, kratzenden Tuch ein Kleidungsstück, das chronisch hässliche Falten warf. Nur einmal schien ich kurz einer besseren Behandlung wert. Es war wohl ganz kurz nach der Hochzeit. An einem Sonntagnachmittag ließ sie völlig unerwartet die Rollläden an den Fenstern des Schlafzimmers herabsausen und meinte, ich solle mir doch an diesem sonnigen Tag eine schöne Wanderung gönnen. Das sei gesünder, als zu Hause herumzusitzen. Sie schlug vor, einen Ausflug nach Schadenweiler und von dort hinter dem großen Meierhof in den Stadtwald, den Rammert, zu machen. Das alles hätte mich mit Sicherheit für vier, fünf Stunden vom Haus ferngehalten. Doch als abschreckendes Vorbild im Umgang mit der Stiefmutter hatten sich mir Hänsel und Gretel eingeprägt. Allein im dunklen Wald, das war eine unerträgliche Vorstellung. Ich hatte damals unentwegt Angst. Dazu gehörte, dass ich abends immer unter das Bett schaute. Ihr Wunsch klang flehend und eigentlich eher verzweifelt. Sicher, diese unerwartete, ungewohnte Freiheit, die bloße Wanderung wäre schön gewesen, aber an diesem Tag schien es mir unendlich aufregender und hinterhältiger, ruhig unten im Garten zu bleiben und die Ohren zu spitzen, um etwas vom Vollzug der Verkündigung, die sich hier wohl abspielen sollte, mitzubekommen. Zu essen gab es damals wirklich nicht viel. Wir verbrachten ab September ganze Tage in den Wäldern um Rottenburg, um Bucheckern aufzulesen. Man gab die Ausbeute

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