Mein Glueck
im bischöflichen Palais untergekommen. Nur etwas störte mich, nachdem wir wieder ins Haus zurückkehren durften: Jemand hatte die Kaffeemühle aus braunem Holz, Porzellan und Metallkurbeln, die in der Küche an einer schmalen Wand neben dem Fenster fest installiert war, zerbrochen. Und es gab niemanden, der fähig war, das Familienstück zu reparieren. So blieb sie weiterhin, nun unbenutzbar, an ihrem Platz. Sie verwandelte sich dabei nach und nach in ein dekoratives Wandstück, von dessen einstigem Gebrauch offensichtlich niemand mehr eine Vorstellung hatte. Jahre später entdeckte ich, dass es auf den Nutzwert des Geräts überhaupt nicht ankam, und zwar durch eine Arbeit von Marcel Duchamp. Es hatte eine Heilung durch Ästhetik erfahren. Die Abbildung von einer Kaffeemühle schmückte den Umschlag der ersten ausführlichen Monographie, die Robert Lebel dem Künstler widmete. Das Bildchen »Moulin à café« hatte Duchamp 1911 für die Küche seines Bruders Raymond Duchamp-Villon mit Ölfarbe auf Karton gemalt. Es glich haargenau dem Gegenstand, dessen Versehrung mich als Kind geärgert hatte. Ich entdeckte in den punktierten Linien, die eine unterbrochene Bewegung andeuteten und mit denen Duchamp in dieser spöttisch-futuristischen Phase spielte, den Hinweis auf unsere eigene zerstörte Kaffeemühle. Sie begann in meiner Erinnerung zu einem Teil von Duchamps Werk zu werden. Erst später, in Gesprächen mit ihm in Neuilly, in Seillans bei Max Ernst, in Monte Carlo, wurde mir dies klar. Schließlich, bei einem gemeinsamen Ausflug in seine Vaterstadt Rouen, führte er mich in die Rue Beauvoisine. Dort zeigte er mir im Schaufenster des ehemaligen Geschäfts E. Gamelin die Stelle, an der er die Schokoladenreibe wie eine mechanische Riesenraupe gesehen hatte. Es war eine der vierzehn bedeutenden Stationen in seinem Leben, die André Raffray für die Retrospektive Duchamp zur Eröffnung des Centre Pompidou später gemalt hat. Ich spürte, dass es bei ihm weder Zerstörung noch Fragment geben konnte: Die Interpretation konnte jede noch so unbedeutende Leerstelle füllen und reparieren. Sonst las ich mehr oder weniger Tag und Nacht. Was bot sich diesem gierigen Lesen besser an als Bücher wie David Friedrich Weinlands Rulaman . Es war ein Fluchtbuch, eine Geschichte, die im Übergang von der Steinzeit in die Bronzezeit ganz in unserer Nähe auf der Schwäbischen Alb spielte, in der Schillerhöhle nicht weit von Urach, die der Autor »Tulkahöhle« nennt. Das Leben unter der Erde, die Entdeckungen und die technischen Erfindungen, die im Rulaman am Übergang zur Bronzezeit beschrieben werden, regten uns zu unseren Spielen an. Der Kampf der Aimats gegen die Kalats gehörte bald zu unserer Wirklichkeit. Die Zeichnungen, die den Angekko vor seiner Zauberhöhle zeigten, passten zu unserer Bunker- und Höhlenphantasie. Dies alles passionierte uns deshalb mehr als das Indianerspiel, weil sich die Vorstellung von Vorgeschichte, Höhle, primitivem Leben fabelhaft mit Bunker und der unauslöschlichen Erinnerung an die grausige Erwartung von Bomben vertrug. Es war ein verängstigter Rückzug aus einer eben noch erlebten Realität. Wir gruben Erdlöcher oder installierten in einem lichtlosen, tiefen Loch, das vom Garten ausschließlich ins Haus führte, die Kulisse für unser Leben unter der Erde. Unser Lager befand sich direkt neben dem Kohlenkeller, einem anderen Fluchtort, in den wir regelmäßig Briketts und fettglänzende Eierkohle hinunterschaufelten. Auch ein anderer Roman, den wir Kinder nachspielten, gehörte zu dem, was zwischen Fiktion und Realität oszillierte, Alois Theodor Sonnleitners Die Höhlenkinder im heimlichen Grund . Allein der rätselhafte Titel erregte uns auf unbeschreibliche Weise. Peter und Eva wachsen ohne Eltern auf und schlagen sich allein in der bedrohlichen Wildnis durch. Für mich wurde das, was diese Bücher erzählten, zur absoluten, nachprüfbaren Wahrheit, und die zahlreichen, oft beschwerlichen Wanderungen mit dem Vater und den Geschwistern, die uns zu den Tropfsteinhöhlen auf der Schwäbischen Alb führten, bestärkten mich darin, die Vorgeschichte als meine eigene Zeit zu erleben. Die Besuche in den Höhlen halfen meiner Einbildungskraft, das Gelesene vor Ort aufzufinden. Alles schien mir mit den Schauplätzen des Buchs übereinzustimmen. In der Nebelhöhle und dann in der noch eindrucksvolleren Bärenhöhle hatte ich den Eindruck, die Tiere und die Ureinwohner würden sich immer kurz vor
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