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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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Brennholz einzutauschen. Die Stiefmutter, von unvorhersehbarer sentimentaler Rührung ergriffen, fing dazwischen plötzlich an zu singen, mit Vorliebe aus Friedrich von Flotows Oper »Martha« die Arie »Letzte Rose«. Dann konnte mit einem Schlag so etwas wie verzweifelter Trübsinn in ihr ausbrechen, der in dem Satz gipfelte: »Was werde ich auch mit dieser großen Wohnung machen, wenn der Mann einmal nicht mehr da ist?« Es gab keine Möglichkeit, dem zu entfliehen. Mein Bruder und die Schwestern zwangen sich, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Ich hielt zumeist unter der lateinischen oder griechischen Grammatik einen Roman oder ein Heftchen versteckt. Eine der Schwestern zupfte zappelig an einem Federkissen und versuchte die Kiele zu zerbrechen. Das klang, das wusste ich aus der Lektüre russischer Romane, die ich damals verschlang, als ob sie Läuse und Wanzen knackte. Die einzige Unterbrechung brachten Unwetter, die über die Stadt zogen. Blitze entluden sich an den Blitzableitern im Kloster auf der anderen Straßenseite. Man löschte das Licht, stellte eine Wetterkerze auf den Tisch und sollte beten. Ich bin seit Jahrzehnten nicht mehr in dieses Haus und in diese Wohnung gekommen. Doch neulich, auf der Suche nach einer Rückkehr, wagte ich einen Versuch, und ich bedauere es. Denn es gibt keine Rückkehr. Das Haus, das früher in seinem weißen Rauhputz erstrahlte, war mit einem Gelb bestrichen, das an widerliche Entengrütze denken lässt. Der wunderbare, verbotene Garten existiert nicht mehr. An keinem Baum, an keinem Gesträuch konnte ich meine Erinnerung wetzen. Überall erstickte ein hässlicher Bodenbelag aus Zement jeden Grashalm. Den ganzen Stolz des plötzlichen Reichtums in der Bischofsstadt schien die riesige Wendeplatte für die Autos im Hof zu bilden. An der Außenwand rechts des Eingangs fand ich die dunkle Senke, in der wir unsere Höhlenphantasien betrieben. Der Aufgang zur braunen Haustür über die zehn Stufen aus Stein hatte alle Veränderungen überstanden. Auch das Ornament aus dickem, geriffeltem Milchglas im oberen Teil der Tür hat überlebt. Ein schweres braunes Geländer aus harter Eiche führte unter einem kleinen, mit Ziegeln bedeckten Vordach nach oben. Doch im Haus selbst verlor sich die Erinnerung. In der Wohnung der Patentante im Erdgeschoss, wo einst die verführerischen Vitrinen, meine Wunderkammern, standen, bedeckten elektronische Apparaturen und Videoeinrichtungen jeden Quadratmeter. Der Schutz des Kellers, in dem wir zahllose Nächte zitternd die Bomber über die Stadt hinwegfliegen hörten, entpuppte sich als Illusion. Die gewölbte Decke, unter der wir uns sicher fühlen wollten, hatte eine Dicke von knapp fünfzehn Zentimetern. Und in unserer Wohnung erkannte ich überhaupt nichts mehr. Wände waren eingerissen und Räume so miteinander verbunden, dass ich nur annäherungsweise die Stelle finden konnte, an der das schwere braune Klavier gestanden hatte. Doch das Schlimmste war die Bewohnerin, die die Wohnung in einen Tierpark verwandelt hatte. Hunderte Steifftiere in allen Größen lagen auf dem Boden, auf Sofas, besetzten Tische und Stühle. Auf einmal kam mir dies unheimlich vor. Nicht zuletzt, weil ich daran denken musste, dass Steiff zur entfernteren Verwandtschaft gehörte und diese Kreaturen irgendwie mit meinem eigenen Blut verbunden waren. Die besessene Sammlerin verwandelte sich unter meinen Augen in eine monströse Schöpferfigur. Unentwegt ließ meine Vorstellung auf sie, wie auf die deformierte singende und tanzende Blondine in Lynchs Film »Eraserhead«, Föten und Sperma aus Plüsch regnen. Ich verließ eiligst die obszönen Räume, in denen ein wilder Darwinismus an sich selbst zu ersticken schien. Der Platz, an dem ich lange zwischen Glück und Unglück gelebt hatte, schien nichts mehr von mir wissen zu wollen.
    In die frühe Zeit in Rottenburg fiel eine Begebenheit, die mich zutiefst bewegte und stolz machte. Der Vater führte als Dirigent mit seinem eigenen Chor, dem Liederkranz, und einem Symphonieorchester am Samstag, dem 5. Juli 1947 , Haydns »Schöpfung« auf. Nichts hatte mich je so aufgewühlt. Ich kannte von den Proben her jede Note, die Texte jeder Arie und aller Rezitative. Es war ein außerordentliches Ereignis für die ganze Stadt und für die Umgebung. Der Anstoß für die Solisten, nach Rottenburg und anschließend nach Tübingen zu kommen, wo eine weitere Aufführung stattfand, war die Aussicht darauf, hier, einige Monate vor der

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