Mein Glueck
im Haus gegenüber einem Kind stecken mochte. Und ich glaube, es gibt nur eine Erklärung. Sie hegte die Hoffnung, ihr Verhalten vermöge die Angst vor den eigenen Widersprüchen und der Sinnlichkeit zu vertreiben. Es war die Lust, zu der sie selbst nicht fähig war und die sie deshalb den anderen auch nicht gönnte – am wenigsten mir. Alles war irgendwie freudlos und armselig. Zum Glück suchte die älteste Schwester Annerose dies mit Geschenken und Liebe zu kompensieren. Ohne sie wäre die Familie untergegangen. Unvergesslich bleibt mir, dass sie mir am Tag ihrer Hochzeit ein Geschenk machte, dessen bitteren Hintersinn ich erst Jahre später erkannte: Sie überreichte mir ihre Violine. Es war so, als ob sie sich damit von dem verabschieden wollte, was bis dahin ihr Glück gewesen war.
Im Winter war es in unserer Wohnung eiskalt. Das Plumpsklo war so belagert, dass man sich dort bestimmt nicht – wie Bloom in Ulysses mit der Wochenzeitung Tibits – hätte gemütlich niederlassen können. Wir bekamen Schrunden und Frostbeulen an den Händen. Abends wanderte die einzige kupferne Bettflasche des Haushalts von Bett zu Bett, und mit dem Wasser, das am Morgen noch leicht lauwarm war, rasierte sich der Vater. Dieses ganze elende Familienleben fand zumeist in einem einzigen Zimmer statt, inmitten dichten Zigarrenrauchs. Denn nur dieser Raum ließ sich im Winter mit einem Kachelofen heizen. Daneben lag das sogenannte Herrenzimmer. Es war ein sakralisierter Ort, der für ganz bestimmte Funktionen reserviert war, für den Besuch von Gästen und für die Bestrafung durch den Vater. Hier stand ein breites Buffet mit Vitrinen, in denen Objekte, Porzellan, Gläser aufbewahrt wurden, die wir nie in die Hand nehmen durften. Das Buffet wechselte einmal die Farbe. Solange meine Mutter noch lebte, war es schwarz. Die Stiefmutter ersetzte es durch ein breites, mahagonifarbenes, voluptuös-biomorphes Möbelstück, das zu ihrer Aussteuer gehörte. Und am Heiligen Abend diente dieser Raum für die Bescherung. Aus diesem Anlass wurde ausnahmsweise in einem kleinen Kanonenofen Feuer gemacht. Das war eine Zeremonie mit unumstößlichen Gesetzen. Nie hat sich am Ablauf etwas verändert. Als wir noch klein waren, mussten wir quälend lange Stunden im Bett verbringen, bis uns endlich ein silbernes Glöckchen herbeirief. Ich erinnere mich nur noch an ein vergleichbares Warten. Am 1. April, meinem Geburtstag, begann immer ein neues Dienstmädchen in unserem Haushalt. Auch da galt es einen Mittagsschlaf zu überstehen. Ich suchte die kleinsten Geräusche, die Schwere der Schritte und das Hin und Her des Wischmopps, die Art, wie dieser gegen die Türe stieß oder kurz zuvor zum Halten kam, zu deuten. Ich war gespannt, wie die Neue aussehen würde. Und jedes Jahr steigerte sich das Gefühl der Erwartung eines neu zu entdeckenden Körpers. An Heiligabend brannten die Kerzen, ausschließlich weiße Kerzen, am frisch geschlagenen, von Harz duftenden Christbaum. Nur silberne Kugeln und Lametta schmückten die Zweige der Weißtanne. Die grünen und blauen Kugeln, die roten Kerzen, die wir bei den Nachbarn bewunderten, mussten wir vermissen. Das sei geschmackloser Schmuck für Bauern, für Lina Neu und ihre Buben oder für die Sailes gegenüber, bei denen wir täglich die Milch holten, aber nichts für uns. Es hieß dann: »Grün und Blau trägt die Bauersfrau.« Den großen Gabentisch bedeckte weißer Stoff, auf dem, wie auf einem ausgebluteten Himmel, silberne Sternchen prangten. Das wirkte wie ein Katafalk. Nach nicht enden wollenden Gebeten, der Lektüre des Weihnachtsevangeliums, nach Hausmusik und gemeinsamem Singen durfte das jüngste der Kinder damit beginnen, eine Ecke des Tuchs zu lüften, und darunter die Geschenke, die das Christkind gebracht hatte, entdecken. Vorher konnten wir noch zusehen, wie drei oder vier Wunderkerzen am Baum aufflammten. Es galt, die Pakete achtsam zu öffnen, die Bänder, ohne irgendeinen Knoten ungeöffnet zu lassen, aufzuwickeln und die Papiere sorgfältig zu falten. Wir hassten diese Akribie, doch sie sollte die Zeit und die Spannung bei der Bescherung verlängern. Diese Liturgie, das Öffnen, das Warten voller Hoffnung und voll freudigem Erschrecken war, ohne dass man es wissen konnte, die beste Propädeutik für spätere erotische Entdeckungen. Im gemeinsamen Wohnzimmer gab der Vater Bauernbuben, die aus den benachbarten Dörfern kamen, Klavierunterricht, um dafür regelmäßig einen Sack Kartoffeln oder
Weitere Kostenlose Bücher