Mein Glueck
hochbegabter Bruder Günther öffentlich als Pianist auftrat und in den Augen vieler Bewunderer und Kenner eine allseits gerühmte Interpretation von Beethovens drittem Klavierkonzert gegeben hatte. Mit welcher Sucht, mit welchem Stolz hörte ich zu, wenn er Christian Sindings »Frühlingsrauschen«, für mich damals der Inbegriff von Schnelligkeit und Virtuosität, vortrug. Immer wieder bat ich ihn, mir dieses Stück und Schumanns »Kinderszenen« vorzuspielen. Ich bewunderte meinen Bruder Günther unendlich. Auch seine Klarheit, Sachlichkeit kamen mir immer als ein Korrektiv vor, auf das ich angewiesen war. Er und seine Frau Gudrun kümmerten sich auf das liebevollste um Monique, als ich sie zum ersten Mal in die Heimat brachte. Wir wohnten bei dem jungen Paar in Lustnau in der Nähe von Kloster Bebenhausen. Sie hatten überall Zettel mit der deutschen Übersetzung der Gegenstände befestigt. Und wir waren alle verblüfft, mit welcher Geschwindigkeit Monique die fremde Sprache aufnahm und diese bald glänzend und akzentfrei beherrschte. Am liebsten wäre ich sicherlich Musiker geworden. Doch die Musik, die mich wehrlos machte und früh in eine riskante Trance versetzte, durfte ich nur als schwaches Echo aus dem Volksempfänger der Familie erahnen. Mein Vater verbot mir, im Sommer während der Übertragungen aus Bayreuth aufzubleiben. Ich erinnere mich, wie ich auf der Treppe saß und wie ein Verbannter die ferne Musik im Wohnzimmer erriet. Was ich hörte, verstörte mich auf unsägliche Weise, ja das überirdische »Im fernen Land, unnahbar euren Schritten« löste mich richtiggehend auf. Bis zum Stimmbruch sang ich ständig diesen Part. Mein Bruder begleitete mich auf dem Klavier. Doch letztlich kann ich nur dankbar dafür sein, dass ich erst später, nach dem Abitur, in der Stuttgarter Oper der bitteren Lähmung par excellence, nämlich der durch »Tristan und Isolde«, ausgesetzt wurde. All dies erklärt eine Überempfindlichkeit, die mich grenzenlos empfangsbereit machte. Ich entwickelte eine Empathie für das Unsägliche, Unsagbare, die mir schließlich selbst Angst machte. Nicht nur, dass mich die Schulkameraden deswegen hänselten, ich merkte es an meiner Reizbarkeit und an den Ticks, die immer auffälliger wurden. Aus diesem Grund ging ich eines Tages unbeobachtet in die Apotheke und fragte nach einem Mittel gegen meine Nervosität. Der Verkäufer gab mir irgendwelche Zuckerpillen, und vorübergehend vertraute ich darauf. Ich war damals kaum mehr als zehn Jahre alt. Regelmäßig kam ein Mann aus der weiteren Umgebung mit Pilzen, Salben und Tinkturen in unsere Stadt. Er empfing im Nebenzimmer eines Wirtshauses und schaute den Leuten, die in Scharen herbeiströmten und lange Warteschlangen bildeten, mit einem Gerät in die Augen. Aber auch ohne das Gerät entdeckte er allein durch eingehende Betrachtung Kröpfe oder den Beginn einer Gelbsucht. Mein Besuch beim Augendiagnostiker Heile endete mit der Diagnose, ich sei eben aufgeregt und dagegen könne man nichts machen. Dies sei familienbedingt. Die Unruhe verstärkte sich in den folgenden Jahren.
An einen immensen Moment des Glücks erinnere ich mich voller Freude. Es war im Jahre 1950. In unserer Stadt sollte im August für die Halbwüchsigen der näheren Umgebung ein Seifenkistenrennen organisiert werden. Da ich kein Taschengeld besaß, um eine Karosserie und das nötige zusätzliche Material zu kaufen, entwarf ich das Fahrzeug mit der Hilfe eines Schreinermeisters, der in unserer Nachbarschaft seine Arbeitsstätte hatte. Er versprach, mir auf die preiswerteste Art eine Kiste aus Brettern zusammenzunageln. Ich solle nur den Entwurf liefern. Unter den Modellen für Schreinerarbeiten, die in der Werkstatt herumstanden, waren zahlreiche Särge. Diese inspirierten mich zu meinem Entwurf. Nur hatte ich auf meiner Zeichnung für den Einstieg des Fahrers nicht genügend Platz vorgesehen. Es war eine Einwegkonstruktion. Man hätte, nachdem ich den vorgesehenen Platz eingenommen hatte, den Wagen vorübergehend zunageln müssen. Es hieß deshalb, das Gefährt wieder auseinanderzunehmen, um die Öffnung zu erweitern und das Chassis neu zu montieren. Doch der Wagen hatte noch keine Räder und besaß auch keine Federung. Einfache harte Reifen aus Metall mit ein wenig Vollgummi trieben wir schließlich auf einer Müllhalde auf. Beim Geld für eine Bremse versagten wir vollends. Der Schreinermeister montierte deshalb rechts neben dem Einstieg einen Pflock, an dem ich
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