Mein Glueck
Währungsreform, leichter etwas zu essen zu finden als in der Großstadt. Die Sänger waren bereit, buchstäblich für ein Butterbrot, genauer für eine Platte mit Käseaufschnitt, aufzutreten, die der Laden des musikbegeisterten Mitsängers Rudhard beisteuerte. Offensichtlich müssen meine Augen damals mitgegessen haben, würde ich mich sonst an den absolut unschwäbischen Namen des Ladeninhabers erinnern? Die Altistin, die auftrat, kam zu uns nach Hause. Der Vater probte mit ihr, und sie sang mir abends am Bett Gutenachtlieder vor. Das einzige, was mir richtige Sorgen machte, Gerda Jenisch hatte O-Beine. Ich riet meinem Vater, er solle doch unbedingt beim Konzert einen Kübel mit Blattpflanzen vor die Sängerin stellen lassen. Er lachte und meinte, er werde eine Lösung finden. Auf diese Weise sah ich erstmals in meinem Leben ein langes Abendkleid und auch den schwarzen Frack, den der Vater trug und der ihm fabelhaft stand. Den jüngsten der Familie, meiner kleinen Schwester Elisabeth und mir, war es streng untersagt, zur Aufführung zu kommen. Es sei zu spät am Abend. Das war Gesetz. Spätestens um 8 Uhr mussten wir, sommers wie winters, schlafen gehen. Doch diesen Abend zu versäumen schien mir unvorstellbar. Elisabeth und ich schlichen uns in unseren Nachthemden aus dem Haus und huschten in den Festsaal, in dem neben dem Orchester zweihundertfünfzig Sänger und Sängerinnen auf dem Podium standen. Der ungeheure, brutale Wechsel vom Pianissimo zum Ausbruch »Es werde Licht« wirkte auf mich wie ein Keulenschlag. Er traf mich derart unerwartet, dass ich von der niedrigen Empore am Eingang, auf die wir geklettert waren, auf den Boden purzelte. Musik und die bedeutende soziale Rolle, die mein Vater dank dieses Konzerts in der Stadt und in der Region einnahm, haben mich zutiefst aufgewühlt. Ich suchte in die Welt der Genies einzutauchen. Auch weil ich wusste, dass ein Genie im Grunde keine Anstrengungen kannte. Alles fällt ihm einfach in den Schoß. Das war mir aus der Lektüre von Rotraut Hinderks-Kutschers Donnerblitzbub Wolfgang Amadeus bekannt. Das Buch beschäftigte mich längere Zeit Tag und Nacht. Ich begann, während mein Vater Klavierunterricht gab, auf selbstgezeichnetem Notenpapier zu komponieren, und legte ihm die sinnlosen Blätter vor. Er improvisierte, indem er sich auf meine Partitur zu konzentrieren schien, auf dem Klavier. Das Resultat rief in mir eine gefährliche Illusion hervor. Der unberechenbare Ertrag des Dilettantismus zog mich an, und nicht von ungefähr galt eines der ersten Referate, die ich im theaterwissenschaftlichen Kolloquium bei Eckehard Catholy an der Universität Tübingen hielt, Goethes Aufsatz »Über den sogenannten Dilettantismus oder die praktische Liebhaberei in den Künsten«. Ich betrachtete meine Beschäftigung mit diesem Sujet als eine Art von Exorzismus. Goethes Schilderung vom furchtbaren Scheitern der Liebhaberei in Wilhelm Meister und nicht zuletzt Thomas Manns Felix Krull gingen mich an. Ich scheute mich auch nicht, nach einem kurzen Unterricht im Violinspiel, bei einer Schulfeier in Rottweil als Solist aufzutreten. Bei den Proben hatte ich meine Sonatine für Violine und Klavier von Clementi überaus wacker gemeistert, und beim Musiklehrer Blau viel Lob über meine raschen Fortschritte eingeheimst. Doch die Aufführung wurde zum Desaster. Vor lauter Aufregung hüpfte mein Bogen wie Galvanis elektrisierte Froschschenkel auf den Saiten, und das Resultat meines Zitterns erinnerte noch am ehesten an das Zitherspiel, das in Orson Welles’ »Der dritte Mann« die Gereiztheit der Wiener Nachkriegszeit zum Ausdruck bringt. Der Traum, auf der Bühne vor der Öffentlichkeit zu stehen, als Dirigent, als Violinist, als Sänger oder warum nicht als Bischof, ließ mich in jenen Jahren nicht mehr los. Meine überaus ehrgeizige Schwester Elfriede, die in der Schule als Beste der Region glänzte, unterstützte diese Neigung.
Ich erinnere mich nicht nur an die Rückkehr des Bischofs Sproll in die Diözese, sondern etwas später, nach dessen Tod, auch an die Ankunft des neuernannten Amtsinhabers Leiprecht vor dem bischöflichen Palais. Als der Bischof vors Portal trat und die Riesenmenge der Gläubigen, die ihm zujubelte, segnete, schaute mich die Schwester mit leuchtenden Augen an und meinte: »Wenn du eines Tages da oben stehst.« Das passte irgendwie zu meiner Vorstellung, alles ließe sich durch Genie oder Gnade erreichen. Nicht zuletzt, weil neben dem Vater auch mein
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