Mein Glueck
ich nahezu perfekt den Diözesanbischof Leiprecht und den Rottweiler Stadtpfarrer zu imitieren vermochte. Bei den Landpfarrern erhielt ich Kaffee und Kuchen, und dafür musste ich im kleinen Kreis mit der Intonation von Bischof oder Stadtpfarrer eine freche Predigt halten. Für die Ausflüge nach Schramberg brauchte ich jeweils die Dispens des Vorstehers. Viel Zeit blieb nie. Am Sonntag, nach dem Hochamt, fuhr ich mit dem Fahrrad in den Schwarzwald. Es war ein einzigartiges Gefühl, in die schwarzen Lippen des Waldes einzudringen. Bei schlechtem Wetter nahm ich das Postauto. Zum Abendessen musste ich stets wieder zurück sein, und es war durchaus eine längere Fahrt. Ich erinnere mich an den 4. Juli 1954 , einen Sonntag, an dem das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft in Bern übertragen wurde. Kurz vor der Halbzeit war ich auf der Rückfahrt für einige Minuten in ein Wirtshaus eingekehrt. Da stand es gerade nicht sehr gut für die Mannschaft. Erst nach meiner Ankunft im Konvikt hörte ich die Fortsetzung, die alle selig machte. Für die Übertragung war im Studiersaal ein kleiner brauner Lautsprecher installiert worden. Erstmals durften wir im Konvikt direkt an solch einem Ereignis teilhaben. Obwohl meilenweit von der Hysterie entfernt, die heute den sportlichen Wettkampf begleitet, hatten wir doch alle das Gefühl, erstmals nach dem Ende des Hitlerregimes ein Ereignis zu verfolgen, das es wert war, erinnert zu werden. Mancher Lehrer wollte uns weismachen, dass wir nach diesem triumphalen und unerwarteten Sieg endlich wieder das Recht hätten, stolz zu sein. Meine Ausflüge nach Schramberg waren von einem gleichsam wollüstigen Moment der Freiheit begleitet. Es gab auf dieser Route so gut wie keinen Verkehr. Die Fahrt führte auf halber Strecke durch das Dorf Dunningen, in dem der Bildhauer Erich Hauser sein Atelier hatte. Und dort oben, hinter Dunningen, zog sich dann alles hin. Ich wusste im voraus, wie lange die Fahrt auf den ebenen Strecken dauerte und wo mich Steigungen und Abfahrten erwarteten. Doch diese Berechenbarkeit, dieser Genuss der Langsamkeit, gehörte zu der wohltuenden Einsamkeit und Stille, von denen ich kaum genug bekommen konnte. Es war ein Spiel mit der vorausgewussten Erwartung, und das gefiel mir. Die Ankunft in Sulgen, das über der Uhren- und Fünftälerstadt liegt, versetzte mich jedes Mal in Freude und Aufregung. Hier brach in meiner Erinnerung erstmals ein Wort entzwei. Aus Schwarzwald wurden die Begriffe »schwarz« und »Wald«, sie standen sich in absoluter Fremdheit gegenüber und starrten sich an. Diese Obduktion des Wortes half mir, meine Umgebung erst wirklich zu sehen. Der Anblick der Berge mit den düsteren Tannen, die Zuversicht, nach der letzten, steilen Abfahrt, vor der mir immer ein wenig graute, der Schutz des großelterlichen Hauses, all dies war unbeschreiblich, war ein unbeschreibliches, pochendes Glück. Kaum konnte ich es erwarten, in der Schillerstraße, wenige Meter neben einem spartanischen Schulgebäude, vor dem Haus Nummer 35 vom Rad zu steigen.
Ich wusste aus zahllosen Erzählungen, dass hier einst das Kindheitsparadies gelegen hatte. Mein Lieblingsbäsle Else und mein Lieblingsvetter Hansjörg lebten im Haus. Ihre Mutter Gertrud war die wunderbarste und in meiner Erinnerung vornehmste Tante und auch diejenige, die dank ihrer Herkunft, die Familie Landers stammte aus Hamburg und Rom, die Enge der übrigen Verwandtschaft durchbrach. Sie hatte eine jüngere Schwester, Dorothee, das »Dorle«, die bei ihren Besuchen von der Aura einer unbekannten eleganten Welt umgeben war. In ihrer Gegenwart fühlte ich mich weit entfernt von allem Alltäglichen. Das warme Rot der Stufen und der Umfassungsmauer aus dem Sandstein des Freiburger Münsters, das dreistöckige Haus mit seinen hellen Fensterläden, dessen Fassade fast vollständig mit weißen Schindeln bedeckt war, der blitzblanke mit purpurnem Kies bedeckte Hof und der hinter dem Gebäude in Terrassen aufsteigende Garten, mit den Beerenstauden und den Spalierbäumen – all dies hatte sich mir seit der Kindheit tief eingeprägt. Dort verbrachte ich in frühen Jahren im Sommer unvergessliche Tage mit meiner Mutter. Es waren Tage, in denen die Mutter mir, wie die Geschwister etwas neidisch erzählten, ganz gehörte. Nur einmal wurde ich bei einem Aufenthalt brutal aus dieser heilen und glücklichen Welt gerissen. Tante Marianne verschleppte mich nach Schiltach in ein Kinderheim. Sie gab vor, mit mir einen kleinen
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